Künstlerin: Tatiana Lecomte
Nur ist der Gegenstand nicht einfach die Welt, wie sie ist, die Welt, wie sie aussieht, und nicht einmal die Art und Weise, wie wir sehen; er ist vielmehr eine standardisierte, charakterisierte, klar definierte Vorstellung vom Sehen. Joel Snyder
Tatiana Lecomte untersucht in ihren Bildserien die Grenzen fotografisch konstruierter Sichtbarkeit. Sie fragt nach der Evidenz des fotografischen Bildes und nach seiner Bedeutung für die Konstruktion von Vergangenheit und Geschichte. In den Serien Der Teich und Oradour sucht die Künstlerin Orte des Verbrechens des Naziregimes auf und untersucht sie fotografisch auf Spuren und lesbare Verweise des Verbrechens. Vordergründig setzt Lecomte das eigene Sehen in Bezug zum Ort und dessen Medialisierung, durchaus im Sinne einer Aneignungsstrategie. Rezeptionsästhetisch betrachtet wird diese dokumentarische Strategie jedoch gebrochen: mittels der Deformierung der Referenz durch Unschärfe (Oradour), durch pikturale Auslassungen (Der Teich) sowie durch die Auflösung der örtlichen Referenz (Einfaches Motiv). Lecomte inszeniert Bilder des Scheiterns der Repräsentation. In sämtlichen Serien finden sich kaum bis gar keine sichtbaren Verweise auf die Vergangenheit. Der Betrachter sieht sich vielmehr mit menschenleeren Gegenden konfrontiert, die auf den ersten Blick friedlich, oftmals gar idyllisch scheinen. Einerseits rekurriert Lecomte auf das Vermögen des fotografischen Bildes zur Emanation des Vergangenen (1), andererseits unterwandert sie die dokumentarisch-fotografische Strategie. Durch pikturale Unbestimmtheitsstellen, Unschärfen und Leerstellen evoziert die Künstlerin eine imaginativ-rekonstruierende Lektüre durch den Betrachter. Die Bilder Lecomtes fungieren nicht als Dokumente, vielmehr verweisen sie auf die Konstruktion von Geschichte sowie auf die vergegenwärtigende Lektüre des einzelnen Betrachters.
Lecomtes Bildern ist stets der Zweifel an der Objektivität des Fotografischen inhärent, an der indexikalischen Spur als Legitimation des Barthes’schen „Es-ist-so-gewesen“ (2). Bilder geben nicht einfach wieder, sie verdanken sich stets auch der Konstruktion und sind selbst wiederum an der Konstruktion von Wirklichkeit wesentlich beteiligt. Die Sichtbarkeit der Dinge ist keine fraglos gegebene Qualität, sie wird vielmehr hergestellt. Fotografie ist als ein Dispositiv beschreibbar, eine Beobachtungskonfiguration, die Sichtbarkeit reguliert. Eine Analyse des fotografischen Dispositivs begreift Bilder nicht als geschlossene semantische Einheiten, fragt nicht nach deren Repräsentation oder Wirklichkeitstreue, sondern nach dem fotografischen Dispositiv als Bedeutung produzierende Schnittstelle gesellschaftlicher Praktiken und Diskurse; eine solche Analyse begreift „Blickverhältnisse als Medienverhältnisse als Repräsentationsverhältnisse als Machtverhältnisse“ (3).
Das fotografische Bild markiert weniger ein Moment der Repräsentation, der Widerspiegelung der Wirklichkeit, denn ein ikonisches Zeichen im wirklichkeitskonstituierenden semiotischen Prozess. Das Betrachten eines fotografischen Bildes gleicht mehr einer Lektüre; das Bild wird nicht erkannt, es wird gelesen. Die Bedeutung des Bildes liegt somit weniger im Abgebildeten als in der Verkettung, im interpikturalen und intertextuellen Bezug zu anderen Bildern und Texten. Es ist diese Interdependenz von ikonischen und textuellen Strukturen, die Lecomte in ihren Arbeiten untersucht.
In der Serie Der Teich sieht sich der Betrachter mit einem Waldbild konfrontiert, das jedoch ikonoklastisch von einem schwarzen Balken gestört wird. Den Ausgangspunkt der Arbeit bildet die historisch-dokumentarische Spurensuche der Künstlerin in Auschwitz-Birkenau. Lecomte machte Aufnahmen des Geländes, befragte den Ort ob sichtbarer Indizes und Spuren der Vergangenheit, des Verbrechens. Noch vor der Vergrößerung der Fotografien schnitt die Künstlerin aus dem Negativ einen wesentlichen Bereich um den Bildhorizont heraus und entfernte mit den Betonpfeilern der ehemaligen Konzentrationslagerumzäunung und den Aussichtstürmen jene Signifikanten, die den Ort als Auschwitz-Birkenau lesbar machen würden. Der schwarze Balken – Verdeckung, Leerstelle oder Auslöschung? – bildet ein Scharnier unterschiedlicher Lesarten und möglicher Bedeutungszuschreibungen. Die pikturale Unbestimmtheit bedingt eine Ergänzung durch den Betrachter, einen Semioseprozess jenseits der Sichtbarkeit fotografischer Faktizität. Lecomte sucht mittels der Strategie fotografischer Aneignung nach einer Vergegenwärtigung von Ereignissen und Geschehnissen, die sich der Sichtbarkeit sowie der Vorstellung weitestgehend entziehen. Der schwarze Balken jedoch „bezeichnet“ das sich der Sichtbarkeit Entziehende, das dem Ort inhärent ist. Diese Auslassung verweist nicht allein auf das Unvermögen einer Vergegenwärtigung durch bildliche Strategien, sondern auch auf die Politik der Bilder, auf dasjenige, das nicht im Bild erscheint, das aber seine Organisation bestimmt.
In der Fotoserie Oradour findet sich der Betrachter mit einer ländlichen Gegend als Motiv verschwommener Bilder einer auf den ersten Blick gefällig anmutenden Bildrhetorik ausgesetzt. Doch gründet die fotografische Idylle bloß vermeintlich auf Weichzeichnung; sie ist vielmehr Resultat einer mehrfachen Medialisierung: Lecomte fotografiert ein anfangs scharfes Bild des Ortes mit einer Polaroidkamera und nimmt dieses Bild vom Bild zur Vorlage für ein weiteres Bild usf. Sie wiederholt diesen Vorgang solange, bis ein Grad von Unschärfe erreicht ist, der ein klares Erkennen des Ortes und seiner Spezifika verunmöglicht. Bei dem kaum noch zu erkennenden Ort handelt es sich um Oradour-sur-Glane, ein französisches Dorf, das 1944 von der SS niedergebrannt und dessen EinwohnerInnen ermordet wurden. Das Dorf wurde nach dem Geschehen als Ort der Erinnerung in seinem zerstörten Zustand belassen.
Lecomte sucht im Sinne einer Aneignungs- und Vergegenwärtigungsstrategie das eigene Bild mit den medialen Codierungen des Ortes in Beziehung zu setzen. Die Unterschiede auf visueller Ebene sind jedoch insignifikant. Da stets nur die gleichen Aufnahmen von der Ruinenstadt gemacht werden können, unterscheiden sich Lecomtes Bilder in keiner nennenswerten Weise von früheren Bildern anderer Fotografen. Lecomte fügt dieser visuellen Ununterscheidbarkeit entsprechend fremde Bilder in die Serie ein, bettet SW-Bilder des Ortes, die unmittelbar nach der Tat gemacht wurden, in die Serie von ihr Farbfotografien ein. Wenn sie dabei auf Archivmaterial, auf Reproduktionen aus Büchern über Oradour zurückgreift, stellt sie zwei zeitliche Schichten nebeneinander. In diesem Spannungsfeld von zeitlicher De- und Rekontextualisierung lotet Lecomte das Verhältnis eigener und fremder Bilder aus. Längst geht jedem Gegenstand ein Bild voran, man sieht Bilder, ehe man die „Wirklichkeit“ sieht. Der eigene, subjektive Blick erscheint somit entwertet, gar negiert, die Spurensuche am Ort des Verbrechens geradezu absurd. Doch mit dieser Gegenüberstellung und Verschränkung fremder und eigener, früherer und aktueller Fotografien verweist Lecomte weniger auf die Unmöglichkeit des Sehens, auf das Scheitern des Blicks als epistemologisches Instrument, als vielmehr auf die Problematik visueller Repräsentation von Geschichte im Kontext medialer Mehrfachcodierung. Nicht die Unmöglichkeit oder das Scheitern des Blicks, sondern die Frage nach den sich stets neu und anders konstituierenden Zusammenhängen und Differenzen von Vorbild, Abbild und Wahrnehmungsbild sind Thema der Arbeit.
Die Frage nach der fotografischen Evidenz des postmodernen, oder mit Marc Ries, des „postkonditionalen“ Bildes, das seine Eindeutigkeit eingebüßt zu haben scheint, verdichtet sich in der Bildserie Einfaches Motiv zu einer Analyse fotografischer Codierungen und intermedialer Wechselwirkungen. In dieser Bildserie untersucht Lecomte keinen Ort des Verbrechens, sondern die fotografische Codierung von Orten des Verbrechens im Allgemeinen: dokumentarische Aufnahmen von Laub, Unterholz, mit typisch grobem Zeitungsraster, der das Bild als Tatortfotografie lesbar macht, auch wenn Text oder Bildlegende fehlen. Lecomte fokussiert nicht den Ort, sondern die hegemoniale Bildregie, mit der Orte des Verbrechens dokumentarisch-inszenatorisch dargestellt werden. Wie bereits in der Bildserie Oradour verwendet Lecomte sowohl eigene Aufnahmen als auch Aufnahmen anderer Fotografen, deren Referenz unbenannt bleibt. Somit verliert der Ort selbst in dieser Serie gänzlich an Bedeutung, er wird zur Variable. In Einfaches Motiv sind es jedoch nicht bloß fotografische Codes mit der Suggestion eines indexikalischen Bezugs zur Wirklichkeit, sondern auch Zeitschriftenbilder, die den Dechiffrierungsprozess fotografischer Bildlichkeit mitbestimmen. Das Foto erscheint als Teil eines Medienverbunds, eines Bildsystems, das durch die Lektüren der Betrachter mitkonstituiert wird. Weniger die Referenzialität des fotografischen Bildes ist von Bedeutung als die Frage, welche Realitätseffekte die Fotografie im Verbund mit anderen Medien zu evozieren vermag.
In diesem Sinn zielt die fotografische Praxis Lecomtes auf einen Begriff von Fotografie, der nicht auf fotografische Faktizität rekurriert, sondern Fotografie „als ein Mediensystem versteht, durch das bestimmte Bildkonstellationen erzeugt werden können, um über bestimmte Phänomene des Realen eine (visuelle) Aussage zu treffen“ (4). Denn nach den impliziten Grammatiken des fotografischen Blicks in einem intermedialen Zusammenhang zu fragen, und nur auf diese Weise lässt sich die Frage noch stellen, heißt letztlich stets, nach den Politiken der Sichtbarkeit sowie ihren Auswirkungen auf die „Weisen der Welterzeugung“ (5) zu fragen.
David Komary
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Anmerkungen:
(1) Roland Barthes, Die Helle Kammer, Bemerkung zur Photographie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1989, S. 90f. (2) Ebd., 86f. (3) Reinhard Braun, Radikale Bilder – Spekulative Theoreme, in: Reinhard Braun, Werner Fenz (Hg.), Radikale Bilder, 2. Österreichische Triennale zur Fotografie, Graz: Edition Camera 1996, http://braun.mur.at/texte/radikal_1996.shtml.
(4) Ebd. (5) Nelson Goodman, Weisen der Welterzeugung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1984.
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