Künstler: Haroon Mirza, Richard Sides
Die Welt wird nicht als ein Ganzes von Körpern ‘im’ Raume,
noch als ein Geschehen ‘in’ der Zeit definiert, sondern sie wird als ein
‘System von Ereignissen’ genommen. Ernst Cassirer
Die Ausstellung relatively prime verbindet zwei künstlerische Positionen, deren ästhetische Praktiken sich auf die Übertragungen und Wechselwirkungen zwischen klangräumlichen und visuellen Wahrnehmungs- ereignissen konzentrieren. Haroon Mirza und Richard Sides untersuchen objekthaft-installativ in den einzelnen Arbeiten sowie im Zusammenspiel der Ausstellung ästhetische Interferenzen sowie mögliche Synthesen visueller und akustischer Medienphänomene. Auf den ersten Blick inszenieren die Künstler getrennt von- einander „spielende“ Klangsysteme, die jeweils mit einer visuellen Ebene gekoppelt sind. Doch jenseits der eigenständigen Performanz der Arbeiten verdichten sich diese zu einem komplexen System, das die vermeintlich getrennten Medienkanäle und Wahrnehmungsebenen ineinander verschränkt und rekursiv aufeinander bezieht. Die Umschlagphänomene von Visuellem in Akustisches, aber auch die Momente zwischenmedialer Übertragung, erscheinen dabei weder linear noch zufällig. Vielmehr bildet sich ein System, in dem Ursache und Wirkung verschwimmen und lineare Folgerichtigkeit in zirkuläre Bedingtheiten übergeht.
Der Fokus der Ausstellung, ihr eigentlicher „Beobachtungsgegenstand“, liegt somit im Unsichtbaren, in der Verschaltung und wechselseitigen Umcodierung von visuellen und akustischen Signalen und Daten. Die Künstler zielen dabei weder auf die Idealität des einen oder anderen Mediums noch auf ästhetische „Resultate“ im Sinne werkhafter Entitäten, sondern auf die Prozesse der Transcodierung sowie deren ästhetische Performanz. Mirza und Sides arbeiten dabei oftmals entlang der Grenzen der einzelnen Medienkanäle und unterlaufen deren Schwellenwerte. Die Phänomene des Umschlagens von Störung in Information, von Geräusch in Ton, von Noise in Musik, evozieren dabei einen Bereich kognitiver Unbestimmt- heit, der die BetrachterInnen bzw. HörerInnen mit der Bedingtheit der eigenen Wahrnehmung konfrontiert. Systemisch betrachtet werden die BetrachterInnen im Sinne eines kognitiven Systems selbst zur Schnittstelle innerhalb der Übertragungs- und Überlagerungsvorgänge. Das gerade noch Hörbare, aber auch die Information innerhalb von Rauschen und Störungen werden zum Thema. Diese rezeptionsästhetischen Übertragungen und Synthesen brechen die Hermetik der medialen Teilsysteme zugunsten eines ästhetisch-prozessualen Möglichkeitsraums auf.
Richard Sides konfrontiert den Betrachter in Reflexions caught in the sun forever pulsing mit einem raum- greifenden System opaker Resonatoren. Sides verwendet dabei Glasflächen unterschiedlicher Größe als Schwingungsträger. Durch magnetgesteuerte Impulsgeber (Solenoids) bringt er die Glasplatten zum Klingen; er bespielt das Gefüge über einen Mikroprozessor mit einer einfachen Melodiefolge und macht es auf diese Weise zum perkussiven Instrument. Die Resonanzfähigkeit der Glasflächen für klangliche Übertragung ist jedoch gering. Die ursprüngliche Musik, ihre einzelnen Tönhöhen, d.h. ihre vertikale Struktur, wird in eine zeitlich linearisierte Folge von Impulsen übersetzt. Das Musikstück wird dabei zugleich verräumlicht, es wird, über das Richtungshören der BetrachterInnen, als geometrale Anordnung im Raum wahrnehmbar. Doch bleibt das Hörbare bei Sides stets ein liminales, ein flüchtiges Geschehen. Sides konfrontiert die RezipientInnen mit den Grenzen ihrer Wahrnehmung. Durch die reduzierte, unspektakuläre Form der Inszenierung werden sie herausgefordert, sich den Klangevokatoren, den Glasplatten, zu nähern, den Klang zu überprüfen, ihn gar zu „begreifen“. Letztlich fordert Sides' Installation die BetrachterInnen und HörerInnen zur Überprüfung ihres räumlichen sowie in weiterer Folge ihres kulturellen Standpunkts hinsichtlich der eigenen Hör- und Wahrneh- mungsweisen heraus.
In Nonlocality and the Akashic field verdichtet Sides unterschiedlichste mechanische und elektronische Bestandteile zu einer dadaistisch anmutenden, lichtemittierenden Skulptur, die wie ein selbstspielendes Instrument zu funktionieren scheint: Zwei alte Kassettengeräte, verschiedenste Found-Footage-Materialien und Lichtquellen bilden ein kinetisches Objekt, das ein kontingentes, abstraktes Lichtgeschehen hervorbringt, welches schließlich auf einer halbtransparenten Folie, ähnlich einer Backlightprojektion, zur Erscheinung gelangt. Eine vor der Projektionsfolie angebrachte Videokamera filmt das Geschehen und übersetzt das piktorale Ereignis in Echtzeit algorithmisch in ein veränderliches, visuell-abstraktes Schema sowie zugleich in ein tonal strukturiertes Klangkontinuum. Dasselbe Signal der videographischen Aufzeichnung wird somit simultan in Bild und Ton übersetzt und fungiert als Grundlage der audiovisuellen Echtzeitkomposition. Das introvertierte System scheint sich dabei geradezu autopoietisch fortzuschreiben. Das jeweilige Medium wird dabei durch die Begrenztheit der einzelnen Systemkomponenten, der Kamera, der Prozessoren, des Bild- schirms zum bestimmenden Konstituenten der sich fortschreibenden Ästhetik.
In Sanctuary (Paik Remix) entwickelt Haroon Mirza eine experimentell-installative Anordnung von Gegen- ständen und Geräten zur Generierung rhythmischer Pattern. Das zentrale Gerät ist ein weitestgehend zweckentfremdeter Plattenspieler, auf dem ein analoges Radio mit ausgezogener Antenne rotiert. Das Radio gerät bei jeder Drehung mit seiner Antenne in die Nähe einer Lampe, deren elektromagnetisches Feld seinen Empfang stört, sodass es zu einem wiederkehrenden, punktuell hörbaren Impuls, zur Ausbildung eines Metrums (Beats), kommt. In ähnlicher Weise gerät die Antenne bei jeder Umdrehung in Berührung mit einem Kontaktsensor, der mit einer Verzögerung eine am Boden befindliche LED-Lichtleiste in Betrieb setzt. Die unterschiedlichen Lampenfarben bringen dabei, entsprechend ihrer jeweiligen elektromagnetischen Frequenz, unterschiedliche Töne und Tondynamiken hervor, ein kleiner Fernsehsender empfängt diese Störungen der Lichtleiste und überträgt sie an einen Verstärker sowie an einen alten Fernseher – wiederum eine simultane Übersetzung in Bild und Ton. Mirza schafft auf diese Weise ein selbstspielendes, interaktives Instrument, das, einmal gestartet und in Bewegung gesetzt, ein sich stetig fortschreibendes Klang-/Rhythmuskontinuum hervorbringt.
Wie in früheren Arbeiten fragt Mirza auch in Sanctuary (Paik Remix), ab wann eine Störung zum Signal wird. Morphologisch existiert kein wesentlicher Unterschied zwischen Geräusch/Störung und Signal, das Maß der Komplexität bestimmt den Informationsgehalt. Letztlich beruht die Bedeutung einer Information auf kulturellem Übereinkommen und auf Konventionen. Mirzas Frage lautet demnach auch: Wie klingt Licht? Wie auch Sides unternimmt er den Versuch, ein immaterielles Moment (Licht) zu „fassen“, es medial zu übersetzen und erneut ästhetisch erfahrbar zu machen. Die intermediale Übertragung führt bei Mirza vorerst stets zu einzelnen, nicht informierten, semantisch unbestimmten Klangereignissen, doch werden diese im Zusammenspiel und in der Abfolge, aufgrund der durch die Rotation bedingten repetitiven Struktur, vom Hörer kognitiv zur rhythmischen Struktur synthetisiert. Die Rotationsgeschwindigkeit des Plattentellers von Mirza ist dabei mit Richard Sides' „Taktfrequenz“ synchronisiert, sodass die rhythmischen Figuren und Elemente beider Systeme auf eine metrische Struktur bezogen bleiben. Im klangräumlichen Zusammenspiel bilden sich dadurch musikalische Synthesen, die zur Ausbildung eines nahezu orchestralen Zusammenspiels führen.
Die Trennung zwischen Raum, Bild, und Klang scheint sowohl bei Sides als auch bei Mirza vergeblich, wenn nicht gar obsolet. Die unterschiedlichen ästhetischen Ereignisse und Medienkanäle bleiben stets aufeinander bezogen und ineinander verzahnt. Beide Künstler verbinden das akustische mit dem visuellen Feld, um letztlich – auch jenseits der Systemgrenzen des jeweiligen „Instruments“ und in Koordination mit den anderen Klang- systemen im Raum – ein musikalisches Ereignis hervorzubringen.
In relatively prime treffen demnach zwei Formen von Räumlichkeit aufeinander. Sowohl Richard Sides' als auch Haroon Mirzas installative Arbeiten funktionieren einerseits als skulpturale Arrangements, sie adressieren den Betrachter kinästhetisch, fordern das Begehen des Raums und Veränderungen der Perspektive heraus und bilden somit ein Differenzial räumlicher Wahrnehmung. Als klangevokative „Instrumente“ und Systeme bringen sie andererseits zugleich eine Form von Räumlichkeit hervor, die sich der triaxial-euklidischen Vorstellung entzieht. Raum bildet sich hier nonlinear und oftmals scheinbar kontingent aus Verdichtungen und Lagen: Materielles und Immaterielles (Skulpturales und Klangräumliches) bilden weder bei Sides noch bei Mirza Gegensätze, beide ontologischen Bereiche erscheinen vielmehr als wesentliche Anteile der ästhetischen Performanz bei der Bildung audiovisueller Bildräumlichkeit. Diese konstituiert sich in Gestalt eines offenen topologischen Raums – wobei Raum hier als relationales Gefüge ohne feste Orientierungspunkte, als ein System von Ereignissen erfahrbar wird.
David Komary
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