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Dezember 22 – März 23

Text | engl. | Abbildungen



Künstlerin: Natalka Diachenko

Natalka Diachenko konfrontiert den Betrachter in der Ausstellung Out of Sight mit Fotografien von meist menschenleeren Orten, Gegenden und Landschaften, die zwischen Vertrautem und Entfremdung changieren. Ihre Bilder handeln vom öffentlichen, nicht-privaten Raum, sie zeigen oftmals disparate, vernachlässigte Orte, man könnte gar von Nichtorten sprechen. Es sind vorwiegend „entökonomisierte“ Orte, die aus funktionierenden Strukturen herauszufallen scheinen. Licht, Wind, Wasser (Meer) werden als eigenständige Kräfte erkennbar, die dem Urbanen entgegenwirken, es überwuchern und durchdringen. Der Künstlerin geht es jedoch nicht um eine Art Ruinenromantik, sondern um das Aufeinandertreffen von Ort/Landschaft und Leben, von Urbanem und Natürlichem. Diachenko sucht an jenen Orten nach persönlichen Geschichten, aber auch nach kollektiven Erzählungen und Aufladungen. Erst in einem erweiterten Sinn fragt sie nach der (offiziellen) Geschichte der Orte und Gegenden. Reales und Imaginäres bilden demnach keine wirklichen Gegensätze, sondern aufeinander bezogene Felder, die einander bedingen und beeinflussen.

Auf den ersten Blick betrachtet arbeitet Natalka Diachenko mit Mitteln dokumentarischer Fotografie. In dieser Lesart zeigt sich dem Betrachter in Out of Sight eine Auswahl großformatiger analoger Fotografien, die reale Orte, genauer, Orte der Ukraine vor dem Ausbruch des Kriegs im Februar 2022 zeigen. Diachenko hat in den Jahren davor die Ukraine weiträumig bereist und mit altem, oft längst abgelaufenem Filmmaterial fotografiert. Mit Ausbruch des Kriegs konnte Diachenko für drei Monate das im März von AIR – Artist-in-Residence Niederösterreich für fünf ukrainische KünstlerInnen spontan eingerichtete Wohnatelier beziehen. Dichaenko brachte sämtliche, noch unentwickelte Filme der Vorjahre nach Österreich mit. Während die Aufnahmen noch in Friedenszeiten gemacht wurden, sind viele der gezeigten Orte aktuell gefährdet, wenn nicht gar besetzt oder zerstört.

Dokumentarisch betrachtet widmen sich Diachenkos Aufnahmen Ort und Architektur, genauer gesagt den oft subtilen Differenzen zwischen ukrainischem und sowjetischem kulturellen Erbe, die sich beispielsweise anhand architektonischer Formensprachen ablesen lassen, aber auch an städtebaulichen und urbanistischen Entwicklungen, sprich der Ökonomisierung und Instrumentalisierung von Gegend und Landschaft.

Out of Sight konfrontiert die RezipientInnen mit einer heterogenen Auswahl sechs großformatiger Fotografien sowie mit einer wandfüllenden, aus drei vertikalen Fotobahnen bestehenden Aufnahme, die Diachenko aus einer Vielzahl mitgebrachter Negative ausgewählt hat. Die Bilder zeigen unterschiedliche Orte und Gegenden der Ukraine, die, bis auf wenige Farbbilder, mit alten SW-Filmen aufgenommen wurden. Farb- und Belichtungsfehler sowie Staub und Kratzer am Film oder Objektiv bilden integrale Bestandteile der Ästhetik dieser Bilder.

Liest man die Bildserie von links nach rechts, so führt Diachenko den Betrachter im ersten und dritten Bild in die Gegend von Kinburn Spit, einem weitläufigen Nationalpark am Schwarzen Meer in der Nähe von Cherson. Im ersten Bild sieht man einen am Strand stehenden Mann, der in absurder Weise, mit dem Rücken dem Meer zugewendet, einem nahestehenden Baum entgegen zu starren scheint. Der seltsam statische, zwischen zwei Palmstämmen eingefasste Bildprotagonist wird so zu einer Art gebrochen-romantischem Betrachter, der die ausgestellte Bildserie „eröffnet“, indem er ihre Leserichtung von links nach rechts antizipiert. Während sämtliche anderen Bilder der Ausstellung in SW gehalten sind, bildet das dritte Bild eine Ausnahme in Farbe. Hier richtet sich der Blick vom Strand ins Landesinnere, man sieht eine durch die gebrochene Farbigkeit des Filmmaterials fast idyllisch anmutende Wiesenlandschaft, die vor dem Hintergrund der aktuellen Kriegsgeschehnisse eine beklemmende Aufladung erfährt. Denn dieses Naturreservoir, ein sonst wichtiges Erholungsgebiet der UkrainerInnen, wurde während des Kriegs besetzt, stark beschädigt und ist seither von Mienen übersät und folglich nicht mehr betretbar.

Im zweiten und vierten Bild der Serie führt die Künstlerin den Betrachter in die Nähe ihrer einstigen Wohngegend in Kyjiw. Man blickt auf das 1923 eröffnete Olympiastadion Start, das – selbst mythenumwogen – aus der Vergangenheit als geradezu politisches Symbol in die Gegenwart ragt. Im Hintergrund erkennt man typische Plattenbauten der 1960er- und 70er-Jahre, denen neuere Bauten gegenüberstehen. Deren „Baukultur“ ist jedoch längst nicht mehr von einer zentralen, einst sozialpolitisch utopischen Idee getragen, sondern folgt rein kommerziellen Interessen. Diese Art der Ökonomisierung des Stadtraums zerstört und verdrängt an vielen Orten der Ukraine nicht nur historisches Erbe in Form von Architektur, sondern auch Landschaft (Unverbautes, Wiesen, Bäume).

In einem weiteren Bild der Serie befindet sich der Betrachter in einem umliegenden Dorf Kyjiws namens Nove (Neues) Zalissya. Die kontrastreiche Aufnahme zeigt, düster umrissen, öffentliche Turngeräte, die vor dem Hintergrund aktueller Geschehnisse ob ihrer rohen Präsenz latent an Folterapparate denken lassen. Der Ort selbst ist, wie auch viele andere Schauplätze bei Diachenko, historisch aufgeladen und mehrfach beschriftet: Nove Zalissya – nicht zuletzt jene Gegend, aus der die Familie des russischen Oppositionspolitikers und Systemkritikers Alexei Nawalny stammt –, wurde nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl eigens für die Umsiedelung der Bewohner des verstrahlten Gebiets erbaut. Der Ort wird so zu einer Art unfreiwilligem Mahnmal, das letztlich auch auf den Versuch der Überschreibung oder Tilgung jenes Unglücks verweist.

Betrachtet man die an der Stirnwand des Ausstellungsraums positionierte wandfüllende, aus drei Fotobahnen zusammengesetzte SW-Aufnahme, so hat man es zu einem guten Teil mit einem Nichtbild, einem Ausfall der Sichtbarkeit zu tun. Die Künstlerin wählt hier das erste Negativ nach Einspannen des Films, sodass sich das linke Bilddrittel komplett überbelichtet zeigt. Die bildhafte Leere wird dabei zu einer Metapher des Scheiterns bildlicher (archivischer) Aufzeichnung oder allgemeiner, für die Lücken der Erinnerung per se.

Der Betrachter fühlt sich durch die immersive Bildwirkung beinahe körperlich in eine belebte Gegend Kyjiws versetzt, in der sich mehrere Kinos, aber auch ein großer Park, ein Erholungsreservoir der hiesigen Bevölkerung, befinden. Man sieht ein typisches Wohnhaus in Plattenbauweise der 1960er-Jahre, wobei dieses spezifische Gebäude direkt neben dem ältesten Baum der Ukraine, einer 300-jährigen Eiche steht. Auf subtile Weise bringt Diachenko hier die Pole Mensch/Natur, Stadtraum/Naturraum mit all ihren Widersprüchlichkeiten in Stellung. Als geradezu skulpturale Präsenz zeigt der architektonische Protagonist, das Wohnhaus, typische Stilmittel seiner Zeit auf und erscheint so selbst als eine Art mnemischer Speicher. Die Verkleidung der Seitenwände mit kachel- oder ethernitplattenähnlichen Tafeln, ein aus heutiger Sicht unpersönlich wirkendes Signum jener Zeit, trifft auf eine vertikale Staffelung von Satellitenschüsseln, die, wenn auch etwas tiste, auf die Individualität der einzelnen „Zellen“, der BewohnerInnen, verweist.

Jenseits der bisher vorwiegend dokumentarischen Lesart, dem Abbilden der Orte und Gegenden, der Beobachtung und auch Kritik an ökonomischen Umwälzungen und deren Politisierung, erweisen sich die Bilder Diachenkos zugleich stets als ambivalent. Bereits ihre Bildsprache – das Arbeiten mit altem Filmmaterial – schafft eine Art zeitlicher Paradoxie. Man sieht durch „beschädigtes“ Bildmaterial hindurch, sodass selbst Neues, beispielsweise Autos jüngerer Bauart, in die Vergangenheit versetzt erscheinen. Der Betrachter muss die einzelnen Bilder zeitsemantisch aktiv entschlüsseln. So wird im ersten SW-Bild der Serie nur bei genauerem Hinsehen ein am Strand liegendes Boot als Tretboot aus schnödem Kunststoff erkennbar, wie man es typischer Weise erst seit einigen Jahren von touristischen Ständen kennt. Diachenko schafft mit ihrer Bildsprache auf subtile Weise ein zeitlich-menmisches Dispositiv, das nicht einfach zeigt und abbildet, sondern auf irritierende Weise verschiedene Zeitlagen miteinander verschränkt.

Natalka Diachenko ist nicht im klassisch-akademischen Sinn Künstlerin, sie hat vielmehr, von einem anfänglich fotojournalistischen Hintergrund herkommend, einen ganz eigenen Weg ins Feld der Kunst, der nicht-instrumentellen oder -funktionalen Fotografie zurückgelegt. Diachenko ist „travelling artist“, sie sucht nach einer eigenen, ja körperlich fundierten Beziehung zum Gesehenen, zum Ort wie auch zur Geschichte. Das Reisen, Gehen, auch das Leben am Ort, bilden unerlässliche Bestandteile ihrer Verstehensweise von Ort, Zeit und Geschichte. Ihre ästhetische Praxis ist das Gegenteil reiner Ideenkunst oder Recherchekunst, sie ist vielmehr Handlungsweise, ein Tun, ja Sein am Ort, in der Zeit. Diachenkos Frage nach der eigenen Beziehung von sich zu Raum oder Ort artikuliert sich dabei nicht bloß in der kinästhetischen Erfahrung, sondern setzt explizit auch mental und mnemisch an und fragt so auch nach Dimensionen der Erinnerung und des – individuellen wie auch kollektiven – Gedächtnisses.

Diachenkos Arbeit lässt sich nicht auf bloße urbanistisch-modernistische, kulturanthropologische Recherchen reduzieren. Die Künstlerin sucht gezielt und dennoch vorsichtig nach Verzahnungen von Individuellem (Erfahrung/Sein) und Kollektivem (Erinnerung/Geschichte). Ihre Bilder fragen nach Formen der Reziprozität von Geschichten (Mythen und Narrative) und Geschichte jener Orte, die in einer rein dokumentarischen Idee vom „Festhalten“ des Vergangenen schlicht verloren gehen würden.

Ideengeschichtlich finden sich in Diachenkos fotografischer Praxis zwei philosophische Topoi, ja Kategorien im Wechselspiel: Ort (Raum) und Bild sowie deren Verhältnis zueinander. Der fotografische Ort und sein Bild entsprechen hier einander nicht einfach, sie stehen vielmehr oftmals im Widerspruch, in einem Verhältnis wechselseitiger Aufladung. Man könnte bei Diachenko auf den ersten Blick meinen, sie suche nach Nichtorten im Sinne vernachlässigter, verlassener Orte oder Gegenden. Doch eigentlich ist genau das Gegenteil der Fall. Diachenko fragt an oftmals disparat erscheinenden Orten nach Spuren des Handelns und Seins (Lebens), sie versteht ihn somit per se als anthropologischen Ort, vom Menschen geprägt, in seiner Vielschichtigkeit sowie in seinem Wandel.

Dankbarer als die Idee des Nichtorts (Marc Augé), eines Orts ohne Identität und menschliche Spur, ist bei Diachenko der Begriff der Heterotopie (Michel Foucault). Mehr noch, während die Heterotopie dadurch gekennzeichnet ist, mehrere Orte (wie beispielsweise im Kino) an einen Ort zu legen und überlagern zu können, bildet sich bei Diachenko durch das Über- und Ineinanderlegen von Zeitschichten der von Foucault in „Andere Räume“ umrissene Spezialfall einer Heterotopie, die Heterochronie, eine Simultanität unterschiedlicher Zeiten. Die Heterochronie vermag, wie etwa Museum oder Bibliothek, unterschiedlichste Zeiten an einen Ort zu legen und zugänglich zu machen. Diachenkos Bilder treten dem Betrachter als heterochronische Interferenzräume gegenüber, in der sich nicht nur reale, etwa einstige mit jetzigen Zeitlagen, sondern auch imaginäre und erinnerte Bilder miteinander in Beziehung zu setzen vermögen.

Die Dialektik von Ort und Bild mündet bei Diachenko schließlich in der Frage nach dem Ort und seiner Repräsentation, also nach der Art und Weise, wie sich der Ort zeigt. Verweist er im Sinne eines Symbols auf etwas anderes? Ist er mehr Repräsentation und steht, wie beispielsweise das oben erwähnte Stadion Start, für ein bestimmtes System, eine politische Idee oder Ordnung? Oder ist er autonomerer Natur und zeigt sich mehr aus sich heraus? Der einzelne Ort changiert für Diachenko, im Widerstreit von Repräsentation und Selbstpräsentation, zwischen seiner Aufladung durch Mythen und Erzählungen und seinem „öffentlichen“, geschichtlich codierten Bild. Die Künstlerin zielt jedoch keinesfalls auf auf ein Entweder/Oder, also entweder eine rein individuelle Betrachtungsweise oder die mehr kanonisierte. Schon gar nicht geht es ihr um eine Frage der Wahrheit, sie hält vielmehr die verschiedenen, oftmals ambivalenten Aufladungen und Lesarten gezielt in der Schwebe.

Das Bild ist bei Diachenko per se zeitliches Dispositiv. Es ordnet an, setzt in Beziehung, macht das Gesehene auch bestimmte Weise sichtbar. Die Bilder fungieren als semipermeable Zeitkapseln, nach innen durchaus mikronarrativ, fast persönlich, nach außen durchlässig für historisierende, auch politisierende Interpretation. Stets aber bilden sie eine Aufforderung, ja die Herausforderung zur Selbstverortung an den Betrachter. Schließlich zeigt sich, dass eine strikte Trennung von Ort und Bild bei Diachenko nicht möglich ist. Ihre Bildlichkeit entspringt dezidiert einer Ästhetik des Handelns, die wesentlich mit Reisen, mit der Erfahrung, am Ort zu sein und der je eigenen Beziehung zum Ort zu tun hat. Dieses In-Beziehung-treten ist nichts Gegebenes, weder für die Künstlerin, noch für den Betrachter ihrer Bilder, sondern stets eine kognitive wie auch mentale Leistung. So gesehen sind die Orte nicht schlicht real, sie erscheinen vielmehr selbst auch stets als innere, mentale Gebilde. Die Beziehung zu jenen Orten kann demnach auch nichts Feststehendes, schlicht Vorhandenes sein, erweist sie das Relationale doch selbst als veränderlich und dem zeitlichen Wandel unterlegen. Diachenkos Bilder zeigen sich somit weniger prekär ob der Orte oder deren Zustand als vielmehr zeitontologisch, ob ihres mnemisch-prekären, veränderlichen Charakters.

Die einzelnen Orte, jede dieser bei Diachenko zwischen Abstraktum und Konkretum changierende Heterochronien, formulieren eine Herausforderung an den Betrachter, sich, auch immer aufs Neue, mit dem Gesehenen in Beziehung zu setzen. Die Vergangenheit bildet kein abgeschlossenes Gegenüber zur Gegenwart, sondern konstituiert sich aus der Betrachtung, aus dem Denken und Wahrnehmen im Hier und Jetzt. Diachenkos Bilder zielen auf subtile Formen der Polysemie und mnemischen Mehrdeutigkeit. Die Künstlerin sucht danach, die Bilder auf ganz eigene, in hohem Grade nichtsprachliche Weise „sprechen“ zu lassen. Das Moment der Widersprüchlichkeit und der Ambivalenz ist hierbei ein geradezu gewollter Zustand, der bei Dichenko eine zentrale Idee von Freiheit widerspiegelt und eine Form von Wahrnehmung jenseits eigener wie auch äußerlicher Instrumentalisierung zu erreichen sucht.

 

David Komary