Künstler: Hamish Fulton
In This is not Land Art sieht sich der Betrachter vier großformatigen Wandbildern des britischen Künstlers Hamish Fulton gegenüber, die jeweils auf eine bestimmte Wanderung, einen Walk oder eine Journey des Künstlers verweisen. Man erfährt von einer mehrtägigen Wanderung zum Gipfel des Denali (2004), vom Aufstieg zum Gipfelplateau des Cho Oyu (2000), einer Wanderung von der Rhone zur Donau (1994) und einer 19-tägigen Küstenwanderung am Fuji vorbei (1988). Von links nach rechts bildet sich eine invertierte Zeitlinie, die jüngste Wanderung steht am Anfang, die früheste markiert das Ende der „Lesestrecke“.
Hamish Fulton (geb. 1946) gehört zu einer Gruppe britischer Künstler, die seit dem Beginn der 1970er-Jahre die aufkommende Konzeptkunst wesentlich mitbestimmte. Im Mittelpunkt seiner künstlerischen Praxis steht nicht das finale Werk, die künstlerisch-individuelle Artikulation wie das Einschreiben ins Material oder die räumliche Setzung, sondern Immaterielles, die dem Werk zugrundeliegende und inhärente Idee, die den Betrachter nicht nur als Sehenden, sondern ebenso sprachlich, als Lesenden, adressiert. Ein signifikantes Merkmal der Arbeiten Fultons bildet die Praxis des Gehens, des Wanderns. Seit seiner Studienzeit unternimmt er mehrtägige Wanderungen auf sämtlichen Kontinenten der Erde. Diese Geh- und Wandererfahrungen bilden die Grundlage von oft nur in wenige Worte gefasste Aufzeichnungen, die er u.a. in Textbildern, Zeichnungen und Fotoarbeiten zu polysemen und doch semiotisch präzisen Text-Bild-Tableaus verdichtet. Jedes Werk basiert und rekurriert dabei auf einen bestimmten Walk. Fulton geht es vorwiegend um die Erfahrung, nicht ums finale Bild oder Objekt. „An object“, so der Künstler, „can not compete with an experience“. Das oder die Medien der visuellen und räumlichen Artikulation bilden stets eine konzeptuelle Folge, ein Mittel visueller Kommunikation und keinesfalls ein künstlerisches Apriori. Für Fulton gilt schlichtweg „Walking is the constant, the art medium ist the variable“.
Das eigentliche künstlerische Medium Fultons ist das Gehen, ob in Form eines Spazierganges oder als mehrtägige Wanderung. Die finale künstlerische Artikulation lässt sich von dieser Erfahrungsmodalität nicht trennen, nicht in Form eines Werks abkoppeln oder verdinglichen. Fultons ästhetische Praxis lässt sich als eine Ästhetik des Handelns beschreiben, er richtet den Fokus aufs Tun, auf die Erfahrung und das Erleben von Landschaft und Natur im Gehen. Eigentliches Movens dieser prozessual-reflexiven und repetitiven künstlerischen Handlungsweise ist das Gewahrwerden der eigenen Wahrnehmung – durch die Natur. Fulton zielt auf eine gesteigerte, eine augmentierte Wahrnehmung von Natur, auf eine Dimension der Wahrnehmung, die weit übers bloße Sehen hinaus verweist und die einer ontologischen Selbstbefragung gleicht.
Das Interesse gilt, wie Fulton selbst betont, nicht der Landschaft („landscape“), sondern dem Land („land“). Er verwehrt sich gegen die Kategorisierung als Landschaftskünstler, sowohl in der Tradition von Landschaftsmalerei als auch, und dies noch expliziter, in der von Land Art. Weder geht es ihm um eine piktoral-romantisierende Betrachtungsweise noch um ein Handeln an oder in der Landschaft, ganz zu schweigen von der Verwirklichung überdimensionaler Manifestationen in der Landschaft. Im Gegenteil, eine seiner grundlegendsten Prämissen ist es, der Landschaft nichts hinzuzufügen, aber auch nichts wegzunehmen. Dies bildet eine geradezu ethische Grundlage seines Tuns, geht es doch um eine unmittelbare, unverstellte und nicht instrumentalisierende Beziehung des Menschen zur Natur, zur Welt. Die mit dem Gehen einhergehende spezifische Form der Wahrnehmung ist Urgrund und zugleich Ziel des Unterfangens. Nur so lässt sich Fultons Praxis des Gehens durch Landschaften, über Berge, entlang von Küsten verstehen, als eine besondere Form prozessualen Wahrnehmens, die auf andere Weise nicht erlangt werden kann und weder kompensierbar noch substituierbar ist. „No walk, no art“, so der Künstler. Die Praxis des Gehens, das Format der Wanderung, ist selbst bereits Werk. Gehen bildet bei Fulton eine Werkform, die, ähnlich einer Skulptur, durch eine Begrenzung definiert wird. Aufs Gehen übertragen bedeutet dies, dass der Prozess des Gehens zeitlich begrenzt, durch einen Anfang und ein Ende definiert werden muss. Eine abgeschlossene Wanderung gleicht, so Fulton, durchaus einem unsichtbaren Objekt, einer immateriellen Skulptur. Das Gehen ist hier folglich keine Handlung mit offenem Ende (ähnlich dem Flanieren), sondern gesetzter Akt, der eine besondere Form gleichförmigen, ja „interesslosen“ Sehens zu bedingen vermag. In dieser besonderen Form bildet das Gehen die Grundbedingung künstlerischer Wahrnehmung, die zeitversetzt in eine jeweils adäquate ästhetisch-reflexive Form transformiert wird. Die Wanderung ist somit keineswegs Mittel der Aneignung, denn dies wäre instrumentalisierend, sie ist jedoch sehr wohl Mittel der Selbstverortung und der ontologischen Selbstreflexion.
Gehen fungiert bei Fulton als eine Art phänomenologisches Brennglas, als eine sich vom denkend-wertenden Bewusstsein sukzessive freimachende und zugleich perzeptiv gebündelte Modalität der Wahrnehmung. Ein Schritt folgt dem nächsten, das Programm an sich ist einfach, basal, geradezu archaisch. Im Gehen begegnen dem Gehenden Orte, Menschen, Dinge, Ereignisse sukzessive, in Form eines Stromes, der sich aus sich heraus zu ereignen scheint, der Lauf der Dinge in Reinform, sozusagen. Der Gehende gleicht dabei mehr einem Suchenden als einem Findenden oder Entdecker, seine Wahrnehmung erweist sich weniger gerichtet und dennoch keineswegs passiv. Wer geht, setzt sich einem Kontinuum der Wahrnehmung aus und begegnet dem Kommenden potentiell offener und weniger wertend. „Experience“, so Fulton, „is another sphere of interconnected data“. Die gezielte Selbstlimitierung im Gehen schafft eine spezifische Form perzeptiver Freiheit. Das Abschwächen von Kontrolle, Gerichtetheit und Telos ermöglicht eine Form universelleren Verstehens, das sich „vor“ dem Denken und Klassifizieren ereignet, eine Art Präkognition, die dem Sein letztlich näher kommt als Epistem und Theorem. Gehen vermag also zeitweilig eine Art Flucht aus der Kategorie zu bewerkstelligen. Es fungiert durchaus als Gegenstrategie zur heutigen Lebensformen. Dennoch ist es bei Fultons nicht eskapistischer Intention, seine Wanderungen sollen nicht aus der Welt führen, sondern in sie hinein, sie sollen den Blick auf das Hier und Jetzt lenken und der Aktualität der Wahrnehmung neues, ja epistemologisches und ontologisches Gewicht verleihen.
Mit Blick auf das Szenario der Ausstellung wird nunmehr deutlich, dass es nicht um Reiseaufzeichnungen, Mapping oder um einen poetisch-dokumentarischen Impetus geht, ebenso wenig um die finale formale Erscheinungs- und Artikulationsform, also um Skulptur, Bild, Text, sondern, in Analogie zum Gehen, um die Erfahrung von Piktoralem, Skulpturalem, Räumlichem und Zeitlichem, letztlich um Fragen nach dem Sein. Die Verbindung zwischen der Erfahrung des Gehens und derjenigen der Wandtableaus liegt dabei nicht im Formalen – also ob bildhafte oder räumliche Analogien oder ein dokumentarischer Gehalt zu erkennen
wären –, sondern in der Wesensverwandtschaft gesteigerter ästhetischer Wahrnehmung, das eine Mal der Landschaft im Gehen, das andere Mal in der Konfrontation mit dem Wandbild.
Die einzelnen Text-Bild-Tableaus in This is not Land Art muten distanziert und entpersonalisiert an. Fulton zeigt Natur und Landschaft stets neutral, weil, so der Künstler, Natur selbst frei von Emotion und Interpretation sei. Fulton tilgt jede Spur subjektiver Darstellung, auch die textlichen Beschreibungen bleiben nüchtern, bezeichnet wird bloß das Was, Wo und Wann, nirgendwo findet sich das Personalpronomen wieder. Das Ich bleibt leere Mitte, eine Art permanenter intendierter Auslassung. Fulton lässt es konsequent aus, um jegliche Selbstbezogenheit, jegliche individuelle Beliebigkeit zu umgehen und zu tilgen, er tut dies zugunsten einer allgemeineren, universellen Sprache und Artikulation von Fragen nach Ort, Zeit und Sein. Trotz ihrer Sprödheit sind die Wandbilder keineswegs unsinnlich, das Rudimentäre, Fragmenthafte und die Auslassungen wirken vielmehr evokativ und die Bilder entwickeln in ihrer Größe eine immersive, fast zwingende räumliche Dimension. Vor dem Hintergrund der grafisch aufs Wesentliche und Chiffrenhafte reduzierten Landschaft entwickelt Fultons Telegrammstil eine geradezu physische Präsenz. Die Distanziertheit der berichtenden und fragmentarischen Sprache schlägt um in eine paradoxe Form der Nähe und Unmittelbarkeit. Die Tableaus entwickeln eine räumliche Dynamik, die den Rezipienten wie von selbst auf einen bestimmten Betrachterstandort im Raum verweist und ihn damit geradezu subliminal räumlich choreographiert.
Für sich alleine betrachtet könnte man bei jedem einzelnen der vier Tableaus noch von einem semidokumentarischen Gehalt der Textbilder sprechen. Im Zusammenspiel, der Simultanität der vier Wandbilder wird der Betrachter jedoch mit der Überlagerung und Durchdringung der Bildräume und ihren semantischen Feldern konfrontiert. Durch diese nicht länger piktorale, sondern zunehmend räumlich-skulpturale Inszenierungsform gelingt es Fulton, den Fokus weg vom entkörperlichten Lesen und Schauen hin zum Hier und Jetzt der Erfahrung „am Werk“ und im Raum zu verschieben. Auf diesem Wege in seiner physischen Präsenz adressiert, wird sich der Betrachter potentiell seiner selbst als Wahrnehmungshandelnder gewahr.
Fulton sucht in der semantisch offenen, konnektiven „Schreibweise“ seiner Wandbilder eine allgemeinere und universellere Bedeutungsebene zu schaffen und zugleich durch die Physis und die räumliche Erlebbarkeit der Wandbilder eine Form von konzentrierter Dringlichkeit zu erreichen. Die Überlagerung und Durchdringung der räumlichen und zeitlichen Referenzen der Einzelbilder mündet in eine Metaebene, eine abstraktere Ebene der Reflexion über Ort, Raum und Zeit.
Sowohl bildliche als auch sprachliche Ebene sind bei Fulton Mittel zum Zweck, um, frei von Persönlichem und Subjektivem, eine intensivierte phänomenologische Wahrnehmungsform zu bedingen. Insofern wäre sowohl die Klassifizierung als bloßes Schrift-Bild als auch die Reduktion auf die Kategorie der Konzeptkunst zu kurz gegriffen. Eher findet sich im Skulpturalen jene physisch-aktuale Dimension der Wahrnehmung, der Fulton im Gehen über all die Jahre nachspürt. Doch auch eine Überbetonung von Physis und Körper würde wiederum zu kurz greifen. Auch der Körper ist nicht das eigentliche Zentrum, sondern bloß probates Mittel und Medium, um zu jener freieren Form des Wahrnehmens und Denkens (im Gehen) zu gelangen. Das „Eigentliche“, worum es Fulton sowohl im Gehen als auch hier in den Wandbildern geht, erweist sich letztlich als schwer vermittelbar. Die Schriftbilder Fultons verweisen auf etwas, das sich nicht unmittelbar darstellen, nicht eindeutig semiotisch fassen lässt. Was anstelle von Abbildung und Repräsentation bleibt, ist die Möglichkeit des Verweisens, des Hindeutens. Die Unmöglichkeit direkter Abbildung und materieller Manifestation bedingt die Unabgeschlossenheit und Fortsetzbarkeit des künstlerischen Unterfangens Fultons, sie bildet schlicht den unausweichlichen Grund, stets weiterzugehen. In dieser Annäherung an eine Sinne und Verstehen verbindende Form der Wahrnehmung, ja der Wahrheit, ist Kunst die entsprechendste Artikulationsweise – und das Gehen wiederum die direkteste Form, dieser Wahrheit nahezukommen.
David Komary
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