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November 14 - Februar 15

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Künstler: Francois Morellet, Manuel Knapp

Der Ausstellungsraum von in default of appearance ist in zwei Bereiche gegliedert. Die Positionen von François Morellet (geb. 1926) und Manuel Knapp (geb. 1978) sind räumlich voneinander getrennt und erscheinen geradezu einander gegenübergestellt. Ein verbindendes Moment wird zunächst von augenfälligen formalen Analogien wie der Verwendung geometrischer Formensprache oder der Reduktion auf Schwarz-Weiß gebildet. Die Gemeinsamkeit der Arbeiten ist jedoch, viel grundlegender, die ihnen inhärente raumtheoretische Dimension. Die geometrisch anmutenden strukturellen Befragungen von Räumlichkeit und räumlichen Perzeptionsweisen beschränken sich dabei nicht auf den phänomenologischen Raum, sondern beziehen wesentlich die Wahrnehmung von Bildraum und Bildräumlichkeit mit ein. Aktualer und imaginärer Raum, sowohl erlebter Raum als auch der vom Betrachter ins bzw. auf das Bild „projizierte“ Raum, sind oftmals nicht voneinander zu trennen, sodass der Status des Betrachteten nicht eindeutig bestimmbar ist. Die „Polysemie“ der bildräumlichen Geschehnisse lädt den Betrachter zur kritischen Befragung des Verhältnisses von Bild zu Raum und allgemeiner von Raumwahrnehmung zu Raumvorstellung sowie deren kultureller Codierung ein.

François Morellet und Manuel Knapp gehen in ihren Arbeiten mit der Konstruktion gegen die Konstruktion vor. Sie inszenieren ikonische (Morellet) sowie installative (Knapp) Bildräume und untersuchen diese innerhalb und mehr noch entlang der jeweiligen Systemgrenzen. Beide Künstler sind an liminalen Wahrnehmungsereignissen, am Gerade-noch und Bereits-schon des Sehens interessiert: Ab wann wird ein nonrelationales Formgeschehen zur Komposition, ab wann wird ein Liniengefüge, eine Formkonstellation zur Bildinformation und damit semiotisch anschlussfähig?

Morellet und Knapp stellen die geometrisch-euklidische Raumvorstellung dekonstruktivistisch bzw. referentiell und ironisch infrage. Der Konvention des triaxialen Behälterraumes wird phänomenologisch (Knapp) und ikonisch/ikonografisch (Morellet) eine relationale, gar dynamisierte Raumvorstellung gegenübergestellt, die den Betrachter in den Mittelpunkt rückt. Die Künstler generieren auf Geometrie basierende Bildräumlichkeiten, die in „unbeständige“, akzidentielle (Knapp) oder mehrdeutige (Morellet) Szenarien umschlagen, sodass der Betrachter mit einer Situation räumlicher Unbestimmtheit konfrontiert ist. Während bei Knapp der Seinsstatus der Bildraumelemente – die Frage, ob das Gesehene Objekt, Bild, ephemere Lichtgestalt sei – das Geschehen bestimmt und gewohnte Formen räumlicher Wahrnehmung unterwandert werden, richtet Morellets Arbeit, insbesondere seine Défiguration, die Aufmerksamkeit auf konventionalisierte und kanonisierte piktorale Betrachtungsweisen und nimmt somit auch eine ikonografisch-ideengeschichtliche Dimension bildlicher Wahrnehmung in den Blick.

In François Morellets Arbeiten aus den 1980er-Jahren, zu der auch die Serie der Défigurations zählt, untersucht der Künstler auf ungewöhnliche, stringente aber stets auch charmante und ironische Weise piktorale Wahrnehmungsweisen von scheinbar Bekanntem und Vertrautem: Morellet ersetzte in den Défigurations mithilfe von Reproduktionen bedeutender Werke der Kunstgeschichte die Köpfe der handelnden Personen durch uniforme weiße Rechtecke, welche historische, gebräuchliche Proportionsmaße des Porträts widerspiegeln: Seit der Gründung der Académie de Science im 17. Jahrhundert galten für Bilder unterschiedlicher Gattungen genormte Formate und Proportionsmaße. Dieses Standardmaß, das für das Porträt mit 92 x 73 cm festgelegt war, findet bei Morellets ikonoklastischen Eingriffen Anwendung. Seine Défiguration (nach Tizians Kirschenmadonna) zeigt dieser Methode entsprechend eine Konstellation von fünf weißen Bildtafeln, die teilweise in objekthafter Überlagerung an der Wand montiert sind. Analog zur piktoralen „Vorlage“ sind einzelne Bildtafeln entlang der Kanten des ursprünglichen Bildträgers beschnitten. Die Formkonstellation scheint ein imaginäres Bildgeviert aufzuspannen und wirkt geradezu unsichtbar gerahmt. Die „Löschung“ des Bildinhalts, das Ersetzen der einzelnen Porträtköpfe durch weiße Bildtafeln, lässt die bildräumliche Setzung der Personen und deren kompositorisch-relationales „Verhalten“ zueinander zum eigentlichen Bildgeschehen avancieren. Morellet stellt dabei die Idee des Porträtgenres geradezu auf den Kopf. Ganz entgegen der Vorstellung von Einzigartigkeit und Individualität des Porträtierten sowie des Porträts repräsentieren die stellvertretenden Rechtecke das genaue Gegenteil – bildliche Angleichung, Uniformität und Austauschbarkeit. Morellet lenkt durch diesen Akt der „Entindividualisierung“ den Blick nicht nur kritisch auf die zu dieser Zeit geltenden Normen der Subjektdarstellung, sondern auch auf die kulturelle Codierung von Subjektivität selbst.

Bildaufbau und ikonografische Struktur werden in den Défigurations zum bildautonomen Agens. Die substituierenden abstrakten Bildelemente entfalten (wie ursprünglich die Protagonisten der Darstellung) sowohl zueinander als auch im Verhältnis zum Bildgeviert ein innerbildliches dynamisches Feld. Morellets Verfahren piktoraler Entleerung macht jedoch nicht nur bildimmanente und -kompositorische Dynamiken beobachtbar, die so entstandene Konstellation weißer Bildtafeln fungiert zudem als Projektionsfläche, deren schemenhafte Form beim Betrachter vertraute Ikonen der Kunstgeschichte – in diesem Fall Tizians Kirschenmadonna – aktiviert. Der Défiguration kommt somit ein doppelter Bildstatus zu: Sie erlaubt eine rein abstrakte und relational-kompositorische Lesart, zugleich aber fungiert das Bild als Aktivator eines geradezu schematisierten Sehens. Man könnte auch von einer Abstraktion zweiter Ordnung sprechen, die einen Raum metabildlicher Wahrnehmung öffnet, d.h. ein Nachdenken von Bildern mit und über Bilder initiiert. Der Künstler zielt auf eine Erfahrung bildlicher Polysemie, die zwischen abstrakter Bildlektüre und ikonografisch-semiotischem Verweis changiert. Indem Morellet das visuelle Gedächtnis des Betrachters aktiviert, macht er die mentalen und symbolischen Selektionsmechanismen bildlicher Wahrnehmung zum nunmehrigen bildsemiotischen Gegenstand einer auf den ersten Blick abstrakt-relational anmutenden Bildbefragung. Subtil bindet Morellet auf diese Weise die kunstsoziologische und ideengeschichtliche Codierung geometrischer und abstrakter Bildsprachen mit ein, ohne die abstrakt-phänomenologische Wirkungsweise der Arbeit zu instrumentalisieren oder ironisch zu dekonstruieren.

Die Zeichnungen der Serie Fold Corners erscheinen auf den ersten Blick als Entwürfe potentieller geometrisch-abstrakter Rauminterventionen. Gemäß der beigelegten schriftlichen Anweisung des Künstlers können die gezeichneten einfachen linearen Formen proportional vergrößert und im Realraum dreidimensional installiert werden. Die Präsentation im „Entwurfsstadium“ betont jedoch das imaginäre Potential der zeichnerisch-räumlichen Formen, sodass der imaginäre Bildraum zum eigentlichen Handlungsträger avanciert. Auf diese Weise erscheinen die Zeichnungen als Entwürfe für potentielle Räume oder besser: als Figurationen potentieller Räumlichkeit. Die Entwurfsblätter weisen jeweils eine zum Mittelpunkt der Zeichnung verlaufende seitenkantenparallele Schnittkante auf, sodass die Blätter sehr einfach zu Raumecken zusammengefaltet werden können. Schnitt und Markierung der Aufstellrichtung (oben/unten) fordern den Betrachter geradezu auf, einen Raum zu „bilden“. Die Zeichnung wird zu einem Medium, das den Wechsel von Zwei- in Dreidimensionalität vorschlägt, und das bildräumliche Umschlagen von Zwei- in Dreidimensionalität zum ludischen Untersuchungsgegenstand macht. Die Zeichnungen bergen die Dimension räumlicher Aktualisierung auch jenseits einer konkreten „Realisierung“ im Raum. Das eigentliche Motiv ist demnach nicht eine Form, die sich zu einer anderen konfiguriert, sondern das Moment der Übertragung, der Prozess der möglichen Umformung.

Vordergründig betrachtet spannt das Papierstück, indem es gefaltet wird, ein triaxiales Raumgefüge auf. Zeichnung und gefalteter Papierraum werden geradezu ungebrochen zu Äquivalenten für Zwei- bzw. Dreidimensionalität. Das bildräumliche Umschlagsszenario fungiert bei Morellet jedoch modellhaft und exemplarisch, dabei mehr spielerisch als verbindlich. Zwar faltet man immer entlang dreier Raumachsen, hier wird jedoch evident, dass eben diese Selbstverständlichkeit problematisch ist. Während in den Défigurations die Konventionalisierung bildlicher Gestaltung zum Gegenstand metapiktoraler Wahrnehmung wird, rücken in Fold Corners die Beschränkungen des Raumbegriffs bzw. der Raumdarstellung ins Zentrum der Auseinandersetzung. Morellet bedient sich zwar konventioneller Ideen von Zwei- und Dreidimensionalität, doch unterwandert er diese geschickt, indem er die zu inszenierenden Formen durch aktuales oder imaginäres Zutun des Betrachters als potentiell veränderlich erscheinen lässt. Morellet lässt auf diese Weise den triaxialen Raum nicht als finales Medium der Inszenierung erscheinen, sondern als ein Stadium möglicher Setzung bzw. Übersetzung. Raum und Räumlichkeit sind hier nicht Gegebenheiten, sondern Variablen veränderlicher Erscheinungsform. Morellet geht, und darin liegt eine signifikante Gemeinsamkeit mit Manuel Knapp, mit der Geometrie gegen die Geometrie vor. Beide Künstler verwenden geometrisch-abstrakte Formensprachen, um einerseits die Autorität und Suggestionskraft von Ordnung zu subvertieren und andererseits ihre gesellschaftliche Prägung und Codierung beobachtbar zu machen.

Die Arbeiten Manuel Knapps konstituieren sich aus einfachen geometrischen Elementen: orthogonale Linien, Flächengevierte und Rasterstrukturen verdichten sich zu triaxial anmutenden Räumen. Man könnte meinen, seine Arbeiten verfolgten konstruktive, gar konstruktivistische Intentionen, und doch scheint etwas mit diesen Bildraumkonstrukten nicht zu stimmen. Die Linien der geometrischen Formen sind dabei weniger Eigenschaften vorhandener Dinge im Sinne einer Kontur oder eines Gliederungsverlaufs geometrischer Elemente, sondern erscheinen dekomponiert und oftmals isoliert. Von Zentralperspektive und Triaxialität abweichend erweisen sich Knapps Raumgefügeim Verlauf des Wahrnehmungsvollzugs als prekär. Entgegen der anfänglichen Ordnung treten dezentrierende und dissoziierende Momente auf, Störungen und räumliche Irritationen werden bestimmend. Das Moment des Konstruktiven wird sozusagen als Material fiktionaler Darstellung vorgeführt.

Knapps Installationen werden wesentlich von einem immateriellen Agens bestimmt: Das Medium Licht bildet nicht bloß das technische Trägermedium, das bewegte geometrische Elemente auf ein Gefüge abstrakter Objekte überträgt, Licht wirkt hier vielmehr raumevokativ und raumauflösend zugleich: Knapp projiziert in int/ext 08 abstrakt-geometrische Animationen auf ein loses Gefüge weißer Objekte (Stäbe, Platten, Balken), sodass Boden, Ausstellungswand und Objekte gleichwertig als „Projektionsflächen“ flüchtiger Erscheinungen fungieren. Die Objekte werden zu integralen Bestandteilen eines permutativen, abstrakt-piktoralen Geschehens. Das Projektionsfeld konstituiert sich realiter aus drei Projektionen, wobei sich weder die einzelnen Felder noch der Projektionsraum im Ganzen als klar definierte Gevierte beschreiben lassen, da die Bildgrenzen ständiger Brechung, Verschiebung und Auflösung unterliegen. Auf diese Weise entsteht eine komplexe Raumöffnung, ein Feld visueller Durchdringungen, Überlagerungen und räumlicher Staffelungen. Knapp projiziert zudem gezielt auf einzelne Installationsobjekte. Ein am Boden liegender dekonstruiert anmutender Kubus wird beispielsweise zum informierten Bildträger. Nicht nur erscheint das kubische Objekt ob seiner physischen Präsenz hervorgehoben, als „Bildträger“ formt es zugleich ein Scharnier zwischen aktuellem und virtuellem Raum, welche zunehmend ununterscheidbar werden. Die Synthese von Erscheinungen unterschiedlicher ontologischer Zugehörigkeit konstituiert einen Bildraum unablässigen Wandels, in dem Gegenstände und Projektion, Objekthaftes und Bildhaftes, sich aufeinander beziehen, ohne je zur Deckung zu kommen. Dieser von medienimmanenten Unbestimmtheitsstellen und liminalen Wahrnehmungsereignissen bestimmte Bildraum lenkt den Fokus auf die „Zwischenräume“ der Wahrnehmung, auf den nichtmedialisierbaren Raum zwischen den Wahrnehmungseindrücken, und macht auf diese Weise das Unvermögen des visuellen Apparats selbst zum „Material“.

Die anfängliche Ordnung und Strukturiertheit von int/ext 08 ist stets prekär, die zeitbasierte Arbeit zielt in ihrem Verlauf nicht auf Konstruktion, auf Raumgenese, als vielmehr auf räumliche Dekonstruktion, Dezentrierung und Dissoziation. Knapp erzeugt Brechungen und Störungen auf bildlich-imaginärer sowie auf phänomenologischer Ebene, um in einer vermeintlichen „Ordnung der Dinge“ eine dezentrale Position zu fokussieren. Weder lässt sich eine bestimmte, einen souveränen Betrachterstandpunkt garantierende Raumvorstellung noch eine verbindliche Raumordnung heranziehen oder gar verdinglichen. Die Variabilität und Inkonstanz der Erscheinungen sowie die Temporalisierung der Wahrnehmung bedingen, dass Raum sich hier nicht länger als feste Anordnung von Punkten beschreiben oder als bloße Konstellation von Gegenständen denken lässt. Und doch ist es letztlich nicht die Arbeit, die über diese prekären Räumlichkeiten Aufschluss zu geben imstande ist, sondern einzig der Betrachter selbst, der durch die Ergänzungsleistung des Blicks im wahrnehmenden Vollzug aktual-physische und bildlich-imaginäre Anteile verbindet und den Raum selbst mithervorbringt. Raum ist dabei nicht „vorhanden“, er ist kein metaphysisch Reales, das sich in ein Koordinatensystem übersetzen ließe, er bildet bei Knapp ein System von perzeptiven Ereignissen, das sich stets aus Differenzen und Interferenzen konstituiert und fortschreibt.

Die radikale Reduktion auf wenige einfache geometrische Formen und die Vermeidung von Farbe sind sowohl bei François Morellet als auch bei Manuel Knapp weder (neo-)konstruktivistisch intendiert noch folgen sie einer Idee piktoral-monochromer Entleerung oder Ästhetik der Absenz. Die Arbeiten der Künstler stellen vielmehr die Frage, wie die vermeintlich leeren (Knapp) oder „geleerten“ Flächen (Morellet) ikonisch wirksam oder (wieder) aufgeladen werden. Der evokative Anteil des Sehens spielt bei Morellet und Knapp dabei auf sehr unterschiedliche Weise eine bestimmende Rolle. Insofern greifen Zuschreibungen von Rigidität und Strenge bei den geometrischen Arbeiten zu kurz. Bei beiden Positionen zeigt sich im Wahrnehmungsverlauf, dass die Künstler vielmehr Umkehrfiguren von Reduziertheit und geometrischer Ordnung nachgehen. Struktur und Unordnung, Komposition und Auflösung, stehen hier nicht einfach in einem dialektischen, sondern vielmehr in einem reziproken Verhältnis. Knapps und Morellets Arbeiten konfrontieren den Betrachter mit perzeptiv veränderlichen, „instabilen“ Bildformationen und Raumgeschehnissen. Sie zielen auf ein das Sehen bewusstmachende Sehen, auf eine Modalität der Wahrnehmung, die die Subroutinen des Sehens in den Blick rückt. Die Künstler bewegen sich dabei im Übergangsbereich von imaginärer Bildlichkeit und aktualer Wahrnehmung. Sie zeigen Umschlagphänomene von Fläche und Raum, die stellvertretend die vermeintliche Gewissheit und Verbindlichkeit des Sehens mit einem Fragezeichen versehen. Die vermeintliche Ordnung, der Anschein von Rationalisierbarkeit und Kontrollierbarkeit der Wahrnehmung, ist von ihrem Widerpart, der Paradoxie und der Irrationalität, nicht zu trennen.

 

David Komary