Künstlerin: Fatoş Irwen
Die kurdische Künstlerin Fatoş İrwen, die im September und Oktober zu Gast bei AIR – ARTIST IN RESIDENCE Niederösterreich war, beschäftigt sich in ihren durchwegs prozesshaften Arbeiten, die dialektisch zwischen individueller und kollektiver Geschichte ansiedeln, mit Fragen der Gerechtigkeit, der Macht und der Freiheit. İrwen arbeitet mit einfachen Materialien, mit Papier, Tee, Haar, sie bedient schlichte, doch eindringliche poetische Metaphern und Narrative. Über den konkreten zeitlichen Kontext einzelner Arbeiten hinaus stellt sie grundlegende Fragen des Seins und fragt nach der Verbundenheit alles Lebendigen, Seienden, sodass das Motiv der Freiheit als wesentlicher Horizont und als Metathema ihres ästhetischen Denkens lesbar wird. In Papierarbeiten, Objekten, Performances und Filmen arbeitet İrwen im Spannungsfeld von Ich zur Welt, von Subjekt und Gesellschaft. Die Übergänge zwischen Realem, Imaginärem und Erinnertem, zwischen Traumhaftem und Unbewusstem, aber auch zwischen Traum und Trauma erweisen sich als fließend, das Verhältnis von innerem und äußerem Sehen, von Körper und Raum/Landschaft erscheint permeabel und doch auch ambivalent.
Fatoş İrwen ist als Kurdin seit ihrer Kindheit mit Formen der Unterdrückung und Verfolgung konfrontiert. Sie wurde zwei Mal willkürlich verhaftet, wobei die zweite Haft mehr als drei Jahre dauerte. Mehrere der in IMPROPER gezeigten Werke, genauer gesagt sämtliche Papier- und Haararbeiten, stammen aus der Zeit İrwens zweiter Inhaftierung in Diyarbakır von 2017 bis 2020. Diese Arbeiten sind nicht nur vom Thema des Strebens nach Freiheit bestimmt, hier wird auch ein weiterer wesentlicher thematischer Strang Fatoş İrwens, das Thema der Frauenrechte, erkennbar, was sich in gewissen Arbeiten dieser Zeitspanne zudem in einem betont partizipativen Denken niederschlägt. So sammelte İrwen das Haar ihrer Mitinsassinnen, um es als künstlerisches Material emanzipatorischen Potentials in Installationen wie Safety net und Skein zum Sprechen zu bringen.
Ein wichtiges ausstellerisches Moment von IMPROPER ist die Verschränkung früherer Arbeiten İrwens mit Werken, die in der Gefängniszeit 2017-2020 entstanden sind. Weder lässt sich İrwens Denken und Tun auf die Schaffensperiode der Inhaftierung reduzieren, noch sollen ihre Arbeiten allein auf das Thema der Unterdrückung beschränkt werden. So stehen innerhalb des Gefüges aus insgesamt elf ausgestellten Arbeiten sieben bild- und objekthafte Werke aus der Zeit der Inhaftierung in Diyarbakir drei Filmen (Video-Performances) gegenüber, die vor der Zeit der Inhaftierung entstanden sind. Die Video-Performances Şiryan (2012), Salt (2013) und Sur-Fragments (2017) fragen auf subtil-poetische, doch ebenso eindringliche Art und Weise nach dem Zusammenhang von Ort, Geschichte, Traum und Trauma. Insbesondere Salt (2013) und Sur-Fragments stellen dabei die grundlegende Frage, wie man nach traumatisierenden Ereignissen der Unterdrückung und der Gewalt an dergleichen Orten (Diyarbakir, Salt-Lake) noch sein, noch leben kann. Anstatt der Stadt oder der Gegend den Rücken zu kehren, arbeitet sich İrwen mnemisch und dabei in hohem Grad symbolisch-performativ an den betroffenen Orten ab.
Sur Fragments gibt eine zu einer siebenminütigen filmischen Narration verdichteten Folge von Szenen einer Performance zu sehen, die İrwen 2017 in Diyarbakir, ihrer Geburts- und früheren Heimatstadt, über den Verlauf eines Tages durchgeführt hat. Der Film, der schlicht doch ebenso intensiv einem Durcharbeiten äußerer wie innerer mnemischer Bilder gleicht, fordert den Betrachter aktiv zum Dechiffrieren, zu einer symbolischen Lektüre der performativen Szenenfolge heraus. Der Arbeit liegen äußerst gewaltsame Geschehnisse der Jahre 2015 und 2016 zugrunde, als es zu schweren Übergriffen auf die kurdische Bevölkerung Diyarbakirs kam, Verbrechen, die ungesühnt blieben und schwere Traumata nach sich zogen. Die Performance stellt die Frage, wie man an diesem Ort, vor dem Hintergrund der traumatisierenden Ereignisse, weiterleben kann. Und doch ringen auch subtile Momente individueller Geschichte in İrwens Performancefilm darum, vom Traumatischen nicht überschrieben und absorbiert zu werden. Sur Fragments ist weit mehr als eine Befragung kontradiktorischer Bilder, sie ist der narrativ-symbolische, performative Versuch, sich dem traumatischen Erbe des Orts zu stellen, sich den Ort aber dennoch wieder anzueignen, ihn sich in jedem Fall nicht nehmen, sich – auch nicht symbolisch – vertreiben zu lassen.
Der Film beginnt mit einer Einstellung, in der die Künstlerin ein Bündel alter Bücher hinter sich herzieht. Bei den Büchern handelt es sich um bedeutende Werke der Geschichte, Philosophie und Religion. Wie können diese Autoritäten in einer Welt, die über derartige Verbrechen hinwegzusieht, noch Gültigkeit beanspruchen, gar noch als heilig betrachtet werden. In einer anderen Szene sieht man die Künstlerin apathisch auf und ab gehen, als wäre sie gefangen, eingesperrt, denn, die ganze Stadt (Diyarbakir), so die Künstlerin, gleicht seit Jahren politisch einem offenen Gefängnis. In einer weiteren Szene begießt die Künstlerin den Straßenboden, als würde sie eine Grabstätte pflegen. Vermisste Menschen, Kriege, ungeklärte Morde, İrwen beschreibt die Stadt als palimpsestartiges Grab, das Begießen wird zur Trauerarbeit, einem Ritual einer Trauer, die offiziell nicht erlaubt ist. In einer abschließenden Szene lässt die Künstlerin eine Wassermelone von oben herabfallen und am Boden zerplatzen. Die Gegend um Diyarbakir ist für den Anbau von Melonen bekannt, die Stadt wird intensiv mit Bildern beworben, die kleine Kinder mit oder in einer riesigen Wassermelone zeigen. Die Werbechiffre markiert eine jener Maßnahmen, Diyarbakir in seiner öffentlichen Wahrnehmung auf absurde Dinge zu reduzieren und die politischen und historischen Geschehnisse schlicht zu überlagern und aus dem Bewusstsein zu drängen.
Das dreiminütige Video Salt basiert auf einer eintägigen Performance, bei der İrwen über mehrere Stunden in den in der Mitte der Türkei gelegenen Salt-Lake hineingeht. Dieser Arbeit liegen, wie auch Sur Fragments, persönlich traumatische Erfahrungen der Künstlerin zugrunde. 2012 wurde Fatoş İrwen nicht nur zum ersten Mal verhaftet, im selben Jahr sind auch mehrere Mitglieder ihrer Familie in verschiedenen Provinzen der Türkei aufgrund ihrer kurdischen Zugehörigkeit angegriffen, verprügelt und gelyncht worden. Bereits in İrwens Kindheit wurde ihre Mutter in derselben Gegend überfallen, eine prägende Erfahrung für İrwen, die durch die Übergriffe 2012 unmittelbar reaktiviert wurden. İrwens Ausweg, mit der Situation umzugehen, lag darin, sich bewusst jenen Traumata zu stellen und geradezu ins Zentrum der Bedrohung und Gewalt zu gehen, in eine Gegend, in der die Lynchkultur noch eine stetige Bedrohung für Kurden darstellt. Über viele Stunden geht die Künstlerin im kniehohen Wasser des Salzsees geradeaus, bloß mit einem dünnen Tuch, einem Tulbent-Schal bekleidet, jenem Tuch, das die kurdischen Friedensmütter bei ihren politischen Protesten tragen und dem somit große symbolische Bedeutung zukommt. In der Exponiertheit und Schutzlosigkeit stellt die Performance einen Zustand kontinuierlicher Konfrontation mit der, wie die Künstlerin es nennt, „gesamten potentiellen Angriffsmasse“ dar. İrwen ist dabei solange geradeausgegangen, bis ihre Füße unter Einwirkung des aggressiven Salzes zu bluten begannen. Von den Einheimischen ist sie dabei argwöhnisch beobachtet worden, immer wieder war das Hupen vorbeifahrender Autos, aber auch Schikanen und Beschimpfungen zu hören.
Die Ausstellung IMPROPER zeigt auf mehrfache Weise Fatoş İrwens Auseinandersetzung mit Themen der Unterdrückung, der Unfreiheit, aber auch des Feminismus und der Frauenrechte. Die ausgestellten Papierarbeiten und Haarobjekte, die allesamt der Zeit des Gefängnisaufenthalts İrwens 2017-2020 entstammen, bündeln und verbinden diese Themenstränge und lenken den thematischen Fokus poetisch in Richtung eines Fragens und Strebens nach Freiheit, ja des Überlebens in einem ganz grundsätzlichen Sinn. Die Werke widerspiegeln dabei, indexikalisch und als eine Ästhetik des Handelns gelesen, die akkumulierte Lebenszeit der Künstlerin, wenn auch in Gefangenschaft.
In den Papierarbeiten, die mit Tee, Haarsträhnen und vereinzelt auch mit Klammern oder Sicherheitsnadeln versehen sind, hat die Künstlerin Beobachtungen, Gedanken und Imaginationen des täglichen Lebens im Gefängnis zu artikulieren, aber auch zu reflektieren und interpretieren gesucht. „All of them are an effort and an action to connect with life, with the world“, so die Künstlerin. Sie bilden zugleich eine Art Residuum, einen inneren Schutzraum, der das Wahrgenommene, Gedachte, Imaginierte dabei jedoch, anstatt sich zurückzuziehen, nach außen wendet, ihm Form und Ausdruck verleiht und somit auch ein Moment der Widerständigkeit und der Standhaftigkeit darstellt. İrwen geht dabei, wie in A Ghost Tree on the Wall, von kleinsten Beobachtungen aus, etwa von Lichtfigurationen und Schattenwürfen auf einer gegenüberliegenden Gefängnismauer. Während der Hofgänge im Gefängnis zeigten sich Lichtspiele, deren Ursprung İrwen nicht kannte, doch sah sie eine baumähnliche Form in ihnen, ähnlich einem Baum, dessen Blätter vom Wind bewegt werden. „Und nun hatte ich“, so die Künstlerin „einen Baum, den niemand fällen konnte“.
Ein ähnlich protektives Moment findet sich in Eye (Nazar), insbesondere im Zusammenhang mit der daneben platzierten Papierarbeit Cracked Ground, die zwei durch eine Haarsträhne vernähte A4-Papierbögen zeigt. A4-Bögen waren, neben Tee (als Pigment), Nadel und Faden (İrwens Haar) die einzigen Materialen, die der Künstlerin erlaubt waren. Während ihrer Haft hat sich Fatoş İrwen intensiv mit der Geschichte des Gefängniswiderstands beschäftigt, insbesondere mit der Geschichte des Frauenwiderstands. İrwen begann, intensiv Gespräche mit langjährigen Insassinnen zu führen und zu recherchieren, sie machte Notizen und schrieb Artikel. Eines Tages wurde bei einer Zellendurchsuchung sämtliches Material durchwühlt, Hefte und Notizen zerrissen, Bücher beschlagnahmt. Beim nachträglichen Aufräumen begann die Künstlerin, die zerrissenen Papiere zu reparieren und zusammenzunähen, schließlich brauchte sie, daher der Titel Cracked Ground, eine Unterlage, um arbeiten zu können, einen „Boden, einen Grund vor den Worten“. Um ihren Raum zu schützen – Bildraum steht hier metaphorisch für persönlichen Raum – versieht die Künstlerin in Eye (Nazar) eine aus zwei A4-Bögen vernähte Schreib- bzw. Bildfläche mit einer Sicherheitsnadel, die einem gängigen Aberglauben nach vor bösen Blicken schützt. So gelesen markiert Cracked Ground den Versuch, „zuerst einen Raum für mich selbst zu schaffen“, während Eye (Nazar) diesen Raum zu vergrößern und zu schützen sucht.
In Paceing (Volta) beschreibt İrwen eine, nein ihre Geschichte des Gehens im Gefängnis. Die geometrischen Formen (Kreise, Rechtecke), die die Künstlerin mit Haarsträhnen auf Papier aufbringt, sind Notate verschiedener Bewegungsmuster, die die Künstlerin bewusst täglich verändert und variiert hat. Denn Gehen im Gefängnis bedeutet, ununterbrochen im Hof herumzulaufen, um das tägliche Bedürfnis nach Bewegung zu erfüllen. Hin und her, links und rechts, diagonal, im Kreis, im Quadrat, usw. So wurde das Gehen auf engstem Raum, insbesondere in einer größeren Gruppe von Frauen, zur choreographischen, ja mathematischen Herausforderung und Denkaufgabe.
Eine ähnliche, wenn auch deutlich poetisch-narrativere Form von Imagination findet sich in den zwei mittelformatigen Papierarbeiten Courtyard Travelers wieder. Die Künstlerin gibt dem Betrachter eine Naturlandschaft in Seitenansicht zu sehen, sodass man meint, sich beinahe am Boden, im Gras zu befinden. Die Grashalme werden dabei von einzelnen Haaren der Künstlerin dargestellt, die sie mit selbstgemachtem Reisleim aufklebt, aber auch von getrockneten Grashalmen, die Vögel in den Gefängnishof gebracht hatten und die İrwen heimlich gesammelt und ins Bildgeschehen eingearbeitet hat. Unterhalb der Naturszenerie, entlang der Unterkante der aus mehreren A4-Papierbögen zusammengesetzten Bildfläche, finden sich einige zart geschriebene Zeilen, die in wenigen Worten eine imaginäre Reise umreisst – „courtyard wanderers, steps and step... wandering lands inside... wandering walls... a tiny thing carried by birds, a whole Mesopotamia, in the women's step.”
Die fragmenthaften Umrisse jener Reise rekurrieren auf ein Spiel, das sich Fatoş İrwen mit anderen Insassinnen als tägliche mentale Übung ausgedacht und ausgemacht hatte. Jeden Tag, während des Gefängnisausgangs, berichteten die Frauen einander von imaginären Reisen, oftmals in die Natur, in einen Wald, in ein fernes Land oder eine interessante Stadt. Diese fiktiven Reisen, erzählt während des Gehens auf engstem Raum, markieren unter den Bedingungen der Haft eine besondere Verbindung zur Welt, aber auch zueinander, um das Gegebene, das Gefängnis zu durchdringen und zu überwinden. Die Frauen konnten mit- und zueinander, und dies ist weit mehr als ein bloß imaginäres Unterfangen, die Natur in ihren Träumen erschaffen und wachsen lassen. „Es war“, so İrwen, „als würden wir die Welt jeden Tag neu entdecken, wie ein Reisender“. So endet diese zweite Arbeit am unteren Rand des Bildes mit den evokativen Worten „You don't know, we traveled the world step by step, a world for each day, we did it between four walls, endless... an eternity was laid out before us, our bodies, endless…”.
Vor dem Hintergrund der Zensur, des weitgehenden Schreibverbots, dem die Künstlerin unterworfen war, erhält die ästhetische Sprache İrwens eine tiefe, dringlichere semantische Dimension. Kleine, poetisch anmutende bildhafte Impressionen und Notizen vermögen auf diese Weise existentielle Sehnsüchte und Gedanken zu artikulieren. Ein kleiner Satz wird so zum Aphorismus, ein Klecks zu einem Bild der Hoffnung, einer produktiven Form des Eskapismus. Die Künstlerin musste sich einer rigorosen Reduziertheit bedienen, um arbeiten zu können. Und doch zeigt sich in dieser Sprache kein Mangel, kein kompensatorisches Moment. Jedes materialsprachliche Zeichen, jede Metapher ist in sich einfach, aber auch bestimmt und unerlässlich. „Our actions do not always have to make big claims“, so Fatoş İrwen; „Sometimes a tiny moment in life is a great claim in itself.“ Der materialsprachliche Minimalismus steht in einem Spannungsfeld mit dem darstellerischen „Naturalismus“, einem eigentlich inneren Sehen von Natürlichem. Das Darstellen von Zeitlichem, von Werden, Wachstum, verändert dabei jegliche vordergründige Verweiskraft, ja seine Ontologie, es drängt subtil und doch auch unbedingt in Richtung Freiheit per se.
Das Arbeiten mit eigenem Haar, wie es im Video Şiryan (2012) aber auch in den installativen Arbeiten Skein (Çile) und Safety net (for women) zu sehen ist, findet sich bei Fatoş İrwen bereits früh. Seit ihrer Kindheit sammelt die Künstlerin ihr Haar, verwendet es als Nähfaden, verziert, damals noch spielerisch, die eigenen Finger, den eigenen Körper mit Genähtem. Ebendiese Tätigkeit bildet, als hätte die Künstlerin spätere politische Geschehnisse intutiv antizipiert, die Grundlage und die zentrale Metapher des Videos Şiryan. Bei ihrer ersten Verhaftung 2012 konnte die Polizei İrwens Fingerabdrücke ob der Beschädigtheit der Oberhaut nicht lesen, was das System ad absurdum laufen ließ und für den Machtapparat ein Moment der Unzulänglichkeit bedeutete. Diese paradoxe Erfahrung, jene unbewusste, vorweggenommene Verweigerung, veranlasste İrwen zu einer haltstündigen performativen Aktion, bei der die Künstlerin ihre Hauptarterien und -venen (kurdisch: Siryan) durch Nähen der Oberhaut verzierte, um am Ende sämtliche Ornamentik unsanft aus der Oberhaut herauszureißen und zu zerstören.
Bis zum Zeitpunkt ihrer Inhaftierung 2017 war das Arbeiten mit Haar für İrwen in hohem Grad selbstbezogen und selbstreflexiv. Unter den Bedingungen der Haft sah sich die Künstlerin jedoch schon bald herausgefordert, das Arbeiten mit bislang eigenem Haar zu verändern und zu erweitern. Die Künstlerin begann, Haare unterschiedlichster Mitinsassinnen zu sammeln und daraus ein wollähnliches Garn zu spinnen, das sie in Skein (Çile) zu einer Art Haarknäuel verdichtet. Das Arbeiten mit Haar, seine Bedeutung und Semantik, erfuhr unweigerlich eine Erweiterung und Transformation. Das nunmehr kollektive Haar bildet ein Sinnbild für Verbundenheit und Miteinander, ein Zeichen eines gemeinsamen starken Körpers. Im Zuge eines Hungerstreiks, bei dem mehrere Insassinnen aus Protest ihr Haar abrasierten und İrwen zur Verfügung stellten, knüpfte die Künstlerin ein Safety net (for women), ein schützendes Netz, das wie ein Schild, wie eine imaginäre Wand im Raum steht. Die Schaffung dieser kollektiven Geste lässt das Material Haar zu einem dialektischen, aber auch verbindenden Zeichen von Individualität und Gemeinschaft werden, und mehr noch, zu einem Sinnbild einer Form von Freiheit, die über die Grenzen des einzelnen Subjekts hinausgeht.
Die Arbeiten İrwens leben von einer Form intrinsischer Spannung, in ihrer poetischen Anmutung und Offenheit erzählen sie zugleich von faktischer Bedrohung und Unterdrückung, ja von Verfolgung und Verbrechen. Den Arbeiten haftet etwas Beklemmendes, latent Unheimliches an, und doch wohnt ihnen zugleich eine sanfte Kraft und Hoffnungsvolles inne. Der Betrachter wird nicht nur visuell, poetisch-imaginativ, sondern in hohem Grade relational, emphatisch adressiert und eingebunden. Gerade unter den Vorzeichen der Unterdrückung, der Ohnmacht, insistiert Fatoş İrwen zugleich jedoch auf eine Form künstlerischer Autonomie. In ihrer Entitäthaftigkeit, ihrer diskreten, von Innen kommenden Kraft, gelingt es ihren Werken, das Repressive, Situative zu durchdringen, zu transzendieren und auf diese Weise, mit den Mitteln künstlerischen Denkens und Handelns zu überwinden. Kunst ist hier nicht bloß in der Zeit angesiedelt, sondern denkt und wirkt über sie, über die aktuellen Gegebenheiten hinaus. In diesem Sinn hat sie die Kraft, die Zeit zu überwinden, Zeiten miteinander zu verbinden. Sie ist eben nicht nur Spiegel, sondern in sich Ausdruck freien Denkens, von Freiheit per se. Fatoş İrwens Arbeiten sind von einer Dialektik vom Ich zur Welt gekennzeichnet. Sehen und Anschauung ist kein eindirektionaler Prozess, sondern vollzieht sich im Dialog und in der Wechselwirkung von innerem und äußerem Sehen. In der künstlerischen Anverwandlung ihrer Themen wendet sich İrwens dabei betont inneren Anteilen des Sehens zu, einem fühlenden, taktilen, emphatischen, relationalen Sehen imaginären Potentials.
Eine zentrale Metaphorik in İrwens Werk findet sich in der Idee des Wachsens, des Gewachsenen. Das Natürliche (Grashalme) aber auch das „Medium“ Haar steht für Leben und Lebendigkeit, für Schönheit und schließlich für Freiheit. Alles was wächst, möchte frei sein, möchte wachsen und sich entfalten können. Die Autopoiesis des Natürlichen widerspiegelt somit İrwens Streben nach Freiheit, gerade auch in einem politischen Sinn. Die Verbindung von Wachsen und Freiheit findet sich einerseits in İrwens Materialsprache, ihren taktilen Qualitäten wieder, andererseits in einer Dialektik von Gewachsenem, das aus sich ist und wird, und Gestaltetem, künstlich und künstlerisch Geformtem. Gerade in der Bescheidenheit der Mittel, jenem Minimum an Mitteln, zeigt sich İrwens Haltung, dem Geschaffenen, Vorhandenen, nur das Nötigste nebenanzustellen und hinzuzufügen. Jede ästhetische Artikulation birgt somit ein Moment innerer Notwendigkeit und verweist auf einen Prozess der inneren Schau, das sich in einer Art taktilem Sehen zu übersetzen sucht. In besten Sinn sind İrwens Werke poetisch essentialistisch, ihr Sprechen bescheiden doch zugleich notwendig, gerade darin liegt die Verbindlichkeit ihrer Werke, die sich nicht aufdrängen, nicht berichten, kommentieren, sondern in einem ontologischen und existentiellen Sinn sehend machen versuchen.
Kunst und Leben, aber auch Kunst, politisches Denken und Handeln greifen bei Fatoş İrwen auf subtile, doch auch dringliche Weise ineinander. Ihr Denken bleibt nicht auf die realen, aktuellen Gegebenheiten beschränkt, es gründet vielmehr auf einer tiefen Verbundenheit mit allem Lebenden, mit den Elementen der Erde, ja mit allem Seienden, weit über das eigene, begrenzte Sein hinaus. Bereits oder gerade darin wird ein universeller, zutiefst philosophischer Ansatz erkennbar, der das Politische aber stets mitdenkt. Das Poetische, Sinnlich-Einfache, Erzählerische und Assoziative sind hier somit gänzlich anti-eskapistischer Natur. So können die auf den ersten Blick verträumt und introvertiert wirkenden Papierarbeiten, in ihrer Schlichtheit und Bescheidenheit, gerade unter den Vorzeichen politischer Repression und Bedrohung, bei İrwen auf radikal-sanfte Weise von Fragen des Seins handeln – mit stetigem Verweis auf Freiheit als grundlegendstes Gut wie auch zentrales Motiv künstlerischen Denkens und Handelns.
David Komary
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