Künstler: Alice Cattaneo, Fred Sandback
Die Ausstellung contrapositive stellt zwei skulpturale Positionen gegenüber, die in ihrer räumlichen Dimension stets einen Bezug zum Medium der Zeichnung aufweisen. Sowohl in den Arbeiten des amerikanischen Künstlers Fred Sandback (1943-2003) als auch der italienischen Künstlerin Alice Cattaneo (geb. 1976) bildet die Linie ein wesentliches raumkonstitutives Moment. Während die Konstellation von Raumlinien in den Werken Sandbacks geometrische Figuren evoziert und sich diese als imaginäre skulpturale Volumina im Raum manifestieren, wird die Linie in Cattaneos Arbeiten als Signatur potentieller räumlicher Bewegung und Dynamisierung lesbar.
Wenn auch die Linie ein verbindendes Moment von Sandback und Cattaneo bildet, so fokussiert die Ausstellung jedoch nicht auf mögliche formale Analogien oder Verweise der Arbeiten. Beide KünstlerInnen befragen das „Medium“ der Linie im Verhältnis zum Raum vielmehr auf je spezifische Weise: Fred Sandbacks Skulpturen, die stets wesentlich auf die formalen, räumlichen Gegebenheiten des Installationsorts eingehen und diese reflektieren, entfalten sich aus der präzisen Konstellation und Setzung von Raumlinien, realiter farbiges Acrylgarn, das zwischen Raumflächen verspannt wird. Die umrissene Form konstituiert eine anwesend-abwesende, in sich ruhende Form, eine imaginäre skulpturale Präsenz, die vom Betrachter in das räumliche Liniengefüge sozusagen „eintragen“ wird. Sandback schafft auf paradoxe Weise eine manifeste, zugleich immaterielle Form von Skulptur, in der und durch die sich der Betrachter hindurch bewegen vermag; er fordert diesen durch die mögliche Veränderung des eigenen Blick- und Betrachterstandpunkt somit zur stetigen Überprüfung der eigenen räumlichen Wahrnehmung heraus.
Den Formkonstellationen von Alice Cattaneo ist jenseits ihrer räumlichen Präsenz eine temporalisierende Dimension, ein Moment der Verzeitlichung, inhärent. Ihre Arbeit scheint der Variabilität von abstakten Linien-Formkonstellation nachzugehen und diese räumlich durchzuspielen, sodass die Linien-Flächengefüge oftmals gar sequentiell anmuten und als aufeinander folgende zeitliche Zustände der verhandelten Formkonstellation lesbar werden. Cattaneos Arbeit, vorwiegend aus Low-Tech-Materialien wie Holzleisten, Kartonstuüken, Klebeband, Kabelbindern gefertigt, verbirgt die eigene, improvisiert scheinende Bauweise dabei in keinster Weise. Im Gegenteil, ihren Arbeiten haftet etwas potentiell Veränderliches, Aleatorisches an, als wurden die skulpturalen Elemente ihr räumlich-performatives Vermögen erproben und vorführen. Wenn auch Cattaneo die Linie skulptural inszeniert, so bildet sie doch stets zugleich die verräumlichte Spur von Zeitlichkeit in Form fragmentierter Silhouetten potentieller Bewegung.
Jenseits formaler Gemeinsamkeiten von Sandback und Cattaneo tritt in contrapositive der ontologische Status der Linie im Kontext der jeweiligen ästhetischen Praxis in den Vordergrund der räumlichen Befragung. Ein signifikanter Unterschied findet sich schließlich in der Materialsprache, genauer: wie sehr die Konstruiertheit, die Gemachtheit der jeweiligen Skulptur sichtbar wird oder verborgen bleibt. Indem bei Sandback die Konstruktionsweise in den Hintergrund tritt und die Raumlinie, die verspannten Fäden, ganz der Evokation der räumlich-geometrischen Form dient, nähert sich der Status der Linie dem einer reinen Idee. Cattaneos Begriff von Linie hingegen ist weniger absolut oder gar abstrakt, die Linie erscheint vielmehr als Notat, als verräumlichte Spur. Die offensichtliche Aleatorik ihrer Formgefüge verweist weniger auf den „Tatbestand“, die Akutalität der skulpturalen Setzung als vielmehr auf einen Möglichkeitsraum jenseits der beobachtbaren räumlich-skulpturalen Gegebenheiten. Cattaneo eröffnet auf diese Weise – und hierin liegt eine wesentliche Gemeinsamkeit mit Sandback – einen Raum potentieller skulpturaler Erscheinungsformen jenseits der Sichtbarkeit, hervorgebracht durch die Vorstellungstätigkeit des Betrachters.
David Komary
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