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April – Juni 24

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Künstler: Ajit Chauhan

Der amerikanische Künstler Ajit Chauhan setzt in seiner Arbeit auf subtile Weise semiotisch subversiv an. Die Orte und Szenerien in seinen „erased postcards“ muten latent rätselhaft an, sie führen an ferne, aus der Zeit gefallen scheinende Orte, und doch wirken sie zugleich intim und führen den Betrachter nahe an sich heran. Inhaltlich bleiben die durch vorsichtiges Abtragen und -kratzen oberer Schichten bearbeiteten alten Postkarten, auch wenn sie auf den ersten Blick Abbildhaftes wie Blumen oder Wasserfälle zeigen, stets in der Schwebe. Chauhan geht es jedoch nicht um Zeichenverschiebung, Kontextbruch oder semiotische Dekonstruktion, vielmehr spielt eine Dimension des Nichtsichtbaren im seinem Bildverständnis eine bestimmende Rolle. Chauhans Werk zeichnet sich dabei grundlegend durch eine Aufmerksamkeit, ja Achtsamkeit gegenüber den kleinen, oft unscheinbaren Dingen aus. Gefundenes, Zufälliges, aber ebenso Abstrakta wie energetische Eigenschaften von Orten, Dingen und Materialien bilden inhärente Vokabel seiner visuellen Poesie.

Ajit Chauhan war im November und Dezember 2023 zu Gast bei AIR – ARTIST IN RESIDENCE Niederösterreich. Schon bei einem früheren, ersten Aufenthalt im Frühjahr 2022 entwickelte sich ein intensiver Austausch mit dem Künstler, nicht nur über Kunst, über Bild und visuelle Poesie, sondern auch über Fragen der Wirklichkeitskonstruktion, der Natur sowie des Seins. Die zweite Einladung Ende 2023 stand nunmehr ganz unter den Vorzeichen der Realisierung einer Einzelausstellung. As long as soll dabei weniger eine bestimmte Auswahl an Werken zeigen, sondern, durchaus im Sinne einer räumlich-poetischen Inszenierung, Chauhans Denken in und mit Bildern widerspiegeln. Der Ausstellungsraum fungiert dabei als eine Art mehrdimensionaler „Bildträger“, der die kleinen Bildgedichte Chauhans nicht nur beherbergt, sondern ihrem interpikturalen Zusammenspiel als eigenständiges gedankliches wie auch inszenatorisches Agens Raum verleiht. Leerstellen und Zwischenräume, also ästhetische Leere sowie semantische Leerstellen bilden dabei wesentliche Vokabel der ins Räumliche erweiterten Poesie Chauhans. Der Betrachter betritt einen spezifischen, jedoch auch in hohem Grad von Immateriellem und Absenzen bestimmten Raum der Interpikturalität, der einer zutiefst relationalen und die vordergründige Erscheinung der Dinge durchdringenden holistischen Sicht Chauhans Rechnung trägt, die Sichtbares mit Unsichtbarem und Nichtsichtbarem in Beziehung setzt.

Chauhans Bilder scheinen auf ein geradezu magisches Denken zu rekurrieren, ähnlich jener frühen Phase der Kindheit, in der Reales, Imaginäres, Wirkliches und Fiktionales noch nicht voneinander getrennt erscheinen (getrennt werden können) und somit ineinanderfließen. Der Künstler arbeitet, durchaus auch vom Filmischen geprägt, mit Assoziativem, Rätselhaftem, mit wechselseitiger inhaltlicher Aufladung, mit Lagen der Erinnerung, aber auch mit Vorstellungen von Leere und Rhythmik, was sich letztlich auch wesentlich in der Hängung der Bilder, im Spacing in und zwischen den Bildern widerspiegelt.

Das Sichtbare, sich Zeigende, erweist sich bei Chauhan als Transitorisches. Ihn interessiert weniger das Gegebene, Beobachtbare per se, als vielmehr die Beziehung zu ihm, die sich dabei veränderlich, reziprok und entsprechend des jeweiligen Beobachtungsstandpunktes limitiert zeigt. Chauhan fragt somit auch inhärent nach dem Standpunkt, der Perspektive der Betrachtung. Was sehe ich, von wo aus, was ist sichtbar, was entzieht sich dem Blick? Er sucht nach dem Punkt, an dem Wahrnehmung wie auch Denken über sich selbst, über ihr eigenen Bedingungen und Limitierungen nachzudenken beginnt. Die Frage nach dem Sehen mündet dabei fließend in einer des Erkennens, Verstehens, die folglich auch jenen Prämissen des Standpunkts und der Limitierung unterliegen.

Das Ausgangs- und Trägermaterial der in As long as gezeigten Bilder sind beinahe zur Gänze alte Postkarten. Zwei Werkserien bilden dabei das wesentliche Repertoire der Ausstellung As long as. In der ersten Bildserie konfrontiert Chauhan den Betrachter mit geradezu „porträthaften“ Darstellungen unterschiedlicher Blumenköpfe. Chauhan versteht die Blume in diesen alten kolorierten Postkarten jedoch weniger bloß als besonderen Gegenstand der Betrachtung und der ästhetischen Kontemplation. Im Sinne einer zeitlichen Metapher steht sie vielmehr für einen besonderen, schönen, doch per se auch vergänglichen Moment. Sie fungiert, so der Künstler, als eine Art Kristallisationspunkt, sie versinnbildlicht einen besonderen Moment (des Seins) und vermag die übliche, herkömmliche, alltäglich-funktionale Wahrnehmung einen Moment lang zu arretieren, zu stoppen.

Chauhan konterkariert die teils latent übertriebene anmutende Darstellung floraler Schönheit mit einer „negativ“ hergestellten Bildlage: in behutsamer Arbeit legt der Künstler eine Art Netz durch Kratzen und Schaben frei, sodass sich dem Betrachter ein geradezu täuschend echtes, mit Wassertropfen besetztes Spinnennetz zu erkennen gibt, das über den jeweiligen Bildraum, ergo die jeweilige Blume gespannt scheint. Erst bei sehr naher Betrachtung wird das Netz als Gemachtes erkennbar. Die Herstellungsdauer, der kontemplative, zugleich hoch konzentrierte Vorgang der Freilegung, wird dabei selbst zu einer Art zeitlichenSignatur, einer indexikalischen Spur des Tuns.

Durch dieses subtraktive „zeichnerische“ Verfahren, das kaum erkennbare Abtragen und Abschälen der oberen Bildlage, schafft der Künstler eine zusätzliche Darstellungsebene, die das jeweilige Bildnarrativ semantisch verändert und erweitert. Chauhan überzieht sämtliche kolorierte Blumendarstellungen, aber auch die Bilder der zweiten Serie, die alte SW-Darstellungen von Wasserfällen zeigt, mit einem jeweiligen nassen Spinnennetz. Das Netz, genauer: die Idee oder der Topos des Netzes, bildet nicht nur eine sich wiederholende piktorale Chiffre Chauhans, sie birgt auch eine sinnbildliche und metaphorische Dimension. Chauhan rekurriert, durchaus im Sinn einer Seinsmetapher, auf den hinduistischen Schöpfungsmythos Indras, der die Welt per se als höchst relationales Gefüge denkt, in der auch Sichtbares mit Nichtsichtbarem in Beziehung steht. Das Netz widerspiegelt somit ein holisitsches Modell, das die Welt als Strukturbeziehung eigener Entität und nicht nur als bloße Summe von Einzelheiten denkt. Jeder Wassertropfen vermag dabei – in diesem Verständnis auch weit mehr als nur visuell – sämtliche anderen Tropfen, die für Dinge, Gegebenheiten, aber auch Momente und Ereignisse stehen können, in sich abzubilden und in inhärenter Interdependenz auf sie zu reagieren.

Bei genauerer Betrachtung erweist sich jedes Netz Chauhans als individuell, als für jedes einzelne Ephemera gemachte Komposition. Teilweise scheint der Künstler das jeweilige Motiv einzugehen, es zu rahmen, zu umgarnen, teilweise faltet das Netz eine komplementäre Ebene auf, die eine eigenständigen bildräumlichen Dynamik Raum verleiht. So erweist sich jede Karte als diskrete Szene eines inneren kompositorischen aber auch semantischen Dialogs zwischen Blume und Netz bzw. Wasserfall und Netz. Nicht umsonst verleiht der Künstler jeder Karte einen das Bildliche mitsemantisierenden Titel wie Suggestion, Afterthought, Nostalgia, and Water, Harmonices, sodass die Karte eine eigene kleine Welt, ein in sich stimmiges Feld semantischer Übertragung und Aufladung zu bilden vermag.

Auch die Bilder der zweiten Postkartenserie, die unterschiedliche Wasserfälle zu sehen gibt, sind jeweils mit einem „wet web“ überzogen. Hier findet sich das Motiv des Wassers auf zwei Ebenen wieder, wenngleich die Metaphorik dabei in unterschiedliche Richtungen weist.  Der primäre „Bildgegenstand“, der Wasserfall, tritt dabei in einen sinnbildlichen Dialog, vielleicht aber auch in ein Zwiegespräch mit der Metaphorik des „wet web“. In beiden Fällen ist Wasser nicht nur etwas Grundlegendes, Lebensnotwendiges, sondern im Sinne eines Elements, eines Kontinuativums, auch stets dasselbe – und doch aber auch immer anders. Als Wasserfall fungiert es, über die Vorstellung des Fließens, des Stromes, als ein Analogon für Sein und Werden, ja für Leben selbst. Am Netz hingegen, in der Form der mannigfaltigen Tropfen, bildet es eine Art Spiegelmedium. Jeder Tropfen vermag dabei sämtliche anderen zu „sehen“, in sich widerzuspiegeln und so auf sie zu reagieren. Jeder der Kristallisationspunkte erweist sich somit unweigerlich als mit allen anderen zusammenhängend und interdependet.

Indem Chauhan dem Betrachter alte Karten zu sehen gibt, öffnet er den Blick in Richtung unterschiedlicher Zeiten, in Richtung Vergangenheit. Aus den Bildern heraus sieht dem Betrachter Vergangenes entgegen und „strahlt“ in die Gegenwart hinein. Umgekehrt und rezeptionsästhetisch, also ganz für den einzelnen Betrachter, vermag sich auch das Gegenwärtige im Vergangenen zu spiegeln und mit ihm zu verbinden. Chauhan transzendiert durch die sanfte Initiation dieser Wechselwirkungen gegenseitiger Betrachtung das vertraute Schema der aktualen Wahrnehmung sowie ihres Hier und Jetzt.

Der Betrachter mag sich bei Chauhan die Frage stellen, was diese Bilder von ihm „wollen“. Zeigen sie überhaupt, adressieren sie einen bestimmten Leser oder Betrachter oder genügen sie sich doch in hohem Maße selbst? Bei Chauhan geht es jedoch nicht um ein bloßes Zeigen oder Präsentieren der bearbeiteten Karten, sondern um eine Inszenierung eines spezifisch sich artikulierenden Miteinander der Bilder. Der Künstler arbeitet subtil, doch ebenso gezielt mit der Positionierung der Bilder, aber auch der Leere zwischen den Bildern, um jenen inner- und zwischenbildlichen Korrespondenzen und Aufladungen unprätentiös zur Wirkung zu verhelfen. Es scheint geradezu so, als würden die Bilder in der Matrix der räumlichen Inszenierung Chauhans auf geheimnisvolle Art und Weise miteinander in Beziehung treten und miteinander „sprechen“. Leere, Gelöschtes und Ausgelassenes, werden nicht nur als inhärente ästhetische Vokabel der piktoral-räumlichen Poetik Chauhans erkennbar. Die Leerstellen zwischen den Bildern sowie die Unterbrechungen des „Metrums“ der Hängung bilden vielmehr einen konstitutiven Teil einer Grammatik, mit der Chauhan seinen Bildern zum Sprechen, ja auf eigene Weise zu ihrem „Denken“ verhilft.

Chauhan gelingt es, mit wenigen subtilen piktoralen und raumchoreographischen Eingriffen vordergründige Formen der Bildlektüre und der Wahrnehmung zu unterminieren. Der Betrachter sieht sich herausgefordert, das verfremdete, entsemantisierte „Material“ auf eigene Weise zu synthetisieren. So finden sich 16 der insgesamt 30 partiell gelöschten Postkarten auf beidseitig ausgerichteten Trägerrahmen, die auf 8 dünnen, freistehenden vertikalen Eisenstangen montiert sind, die in ihrem räumlichen Miteinander eine imaginäre Wand aufspannen. Der Leerstelle, ob in Form rhythmisierender Zwischenräume der Bilder oder in Form jener zur Wand synthetisierten Absenzen, wird so eine per se evokative Kraft zugeschrieben, die das Ausstellungsdispositiv, genauer gesagt in der Begehung und Erfahrung durch den Betrachter, nicht nur wesentlich mitformt, sondern auch durchdringt und transzendiert.

Ajit Chauhans Fokus richtet sich jenseits von bloß vordergründig Sichtbarem, empirisch Gegebenem, schließlich auf Nichtsichtbares und Nicht-Materielles. Er interessiert sich wesentlich für „Nouema“ (Kant), die im Gegensatz zu den sinnlich erfahrbaren „Phänomena“ nur in Gedanken erfasst werden können. Chauhan arbeitet dabei subtil an den Übergängen zwischen jenen Kategorien und Größen, also zwischen Beobachtbarem, Sichtbarem und Erdachtem, Konzeptuellem und letztlich Spirituellem.

Ajit Chauhans Bildsprache lässt sich weder auf das Rätselhaft-Bildhafte, noch auf das Arbeiten mit Leerstellen und Absenzen reduzieren. Seine Besonderheit liegt vielmehr in deren Interdependenz und semantisierender Wechselwirkung. Chauhans künstlerisches Tun, seine subtile wie auch intime bildräumliche Sprache mit Bildern und Absenzen widerspiegelt ein Denken, das das Sichtbare zu transzendieren sucht, ja per se transzendiert versteht, und dabei einem Wirklichkeitsbegriff nachgeht, der von einem Fragen nach dem Verhältnis von sich zur Welt, jenem Veränderlichen im Stetigen, nicht zu trennen ist.

 

David Komary