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Mai – Juni 12

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Künstler: Harun Farocki

Die Ausstellung all the right pictures zeigt zwei frühe, dokumentarisch-essayistische Arbeiten von Harun Farocki, die auf die Grammatiken ästhetischer Produktion fokussieren. Während Farocki im Film Still Life Bildregien der Werbeindustrie, wie die perfekte Inszenierung einer Armbanduhr oder das Arrangement einer Käseplatte, mit flämischer Stilllebenmalerei des 16. und 17. Jahrhunderts konfrontiert und somit ikonisch und bildgeschichtlich miteinander in Beziehung setzt, wird in So long good-bye das affektive, wenn nicht eskapistische Potential eines typischen Discostücks der Siebzigerjahre einer Dekonstruktion unterzogen.

Schauplatz des Hörstücks So long good-bye (1978) ist ein Tonstudio Ende der Siebzigerjahre, in dem eine Single-Schallplatte, ein Serienprodukt der Discoära ähnlich Boney M. oder Donna Summer „hergestellt“ wird. Farocki verfolgt zwei Tage lang sämtliche Arbeitsschritte, er beobachtet das Zusammenkommen von Arrangeur, Texter und Musikern, das Proben von Rhythmusgruppe, Streichern, Chorgruppe und schließlich die Aufnahmen von Haupt- und Bassstimme. Er zeigt dem Hörer das Musikstück als in „Phasen zerlegte Arbeit“ (Farocki) und rückt somit die Produktionslogik, die wesentlich von den damaligen Möglichkeiten und Vorgaben der Mehrspurmaschine bestimmt war, in den Vordergrund. Dieses „Fließband der Musikindustrie“ (Farocki) lässt die vermeintliche Einheit des finalen Stücks als Konstrukt, als Spur für Spur Zusammengesetztes erscheinen. Das gelungene musikalische Zusammenspiel des „Ensembles“, die musikalische Authentizität, erweist sich als Simulacrum, als technische Synthese getrennt aufgezeichneter Stimmen. Die etwas unterbesetzte Chorgruppe erfährt dank der Möglichkeiten der Mehrspurmaschine dabei schlicht eine Vergrößerung, indem die Spur verdoppelt wird. Um den affektiven Gehalt des Songs, seine emotionale Anschlussfähigkeit, zu steigern, werden von Soul- und Bassstimme gezielt aufgenommene Seufzer, sogenannte „Feelings“, hinzugemischt. Nach der letzten dokumentarischen Sequenz erfährt der Hörer vom Kommentator schließlich, dass die Sängerin, der wohl wichtigste musikalische Part dieses Musikstücks, mit der beinahe über die gesamte Aufnahmezeit gearbeitet wurde, ersetzt wurde, weil ihre Stimmlage angeblich nicht der rhythmisierenden Bassstimme angepasst werden konnte.

Trotz der offen gelegten Konstruiertheit des Songs und der Fragmentiertheit der Aufnahmen verfehlt das „Produkt“ seine affizierende Wirkung nicht, auch wenn der Song während des Aufnahmeprozesses nur auszugsweise, das Stück als „Ganzes“ hingegen erst am Ende zu hören ist. Unwillkürlich schreiben sich schon während des dokumentierten Produktionsprozesses Refrain, Hauptmelodiefolgen und rhythmische Struktur im akustischen, genauer: musikalischen Gedächtnis des Hörers ein. So long good-bye ist somit Dekonstruktion, ohne jedoch die ästhetische Wirkung, das von den Produzenten erzielte Plaisir, auszublenden oder zu negieren. Farocki setzt vielmehr die ästhetische Resonanz beim Hörer auf paradoxe Weise in Szene. Er zeigt, dass das ästhetische Produkt „funktioniert“, genauer: wie es im Verlauf der Produktion zu funktionieren beginnt. Der Hörer befindet sich in einer ambivalenten Situation – als Beobachter, der sich jedoch nicht in gesicherter Distanz zum Geschehen, sondern zugleich als potentieller Adressat und Konsument der musikalischen Produktion wiederfindet.     

Farocki äußert in So long good-bye, anders als in Still Life, der zweiten Arbeit der Ausstellung, einen eindeutigen Kommentar, eine subjektive Stellungnahme, in der er seinen Widerwillen gegenüber der Instrumentalisierung der „Lust sich zu bewegen, zu tanzen“ (Farocki), Ausdruck verleiht. So long good-bye macht schließlich nicht bloß das Format des Songs als musikindustrielle Konvention lesbar, sondern erscheint als ein Dispositiv, das die Frage nach den Produktionsweisen, ihren inhärenten Logiken aufwirft und damit den Blick auf die Interessen und Autoritäten hinter der ästhetischen Produktion lenkt.

Im einstündigen Film Still Life (1997) wird der Betrachter mit der Gegenüberstellung und Engführung zweier Bildmedien und -genres konfrontiert und damit einem Changieren unterschiedlicher bild- und blickgeschichtlicher Kontexte ausgesetzt. Farocki montiert abwechselnd Aufnahmen, in denen holländische Stillleben des 16. und 17. Jahrhunderts betrachtet und kommentiert werden, mit dokumentarischen Sequenzen, die in vier verschiedenen Fotostudios aufgenommen wurden. Jeder dieser vier Abschnitte zeigt die aufwändige Herstellung einer Werbefotografie: eines Geldscheins, einer Käseplatte, einer Gruppe von Biergläsern und einer Armbanduhr – allesamt Gegenstände, die Ähnlichkeiten mit Bildobjekten der gezeigten Stilllebenmalereien erkennen lassen.


Zu Beginn des Films, das Betrachterauge wird von der kommentierenden Stimme an Details des Bildes Marktfrau am Gemüsestand von Pieter Aertsen aus dem Jahr 1567 entlang geführt, stellt die Sprecherin eine grundlegende programmatische Frage von Still Life: Was bedeutet es, Darstellungen lebloser Gegenstände zu betrachten, und mehr noch, was bedeutet es, sie zu zeigen? Unter aktuellen medialen Bedingungen würde die Frage lauten, wie derartige Bilder gelesen werden können, welche Inhalte den Gegenständen kulturell eingeschrieben sind oder werden und auf welche Weise die dargestellten Gegenstände zur Sichtbarkeit gelangen, welche Institutionen die jeweiligen piktoralen Inszenierungen hervorbringen.

Farocki schafft mit der Parallelisierung von Stilllebenmalerei und Fotografie, der Genres Kunst und Werbung, einen komplexen ikonischen und semiologischen Verweiszusammenhang, der sich weder als komplementäres Verhältnis beschreiben lässt, noch in einer Synthese, einer Verschmelzung der Bildregien und ihrer -semantiken mündet. Die Engführung von Malerei (Stillleben) und Fotografie (Werbebildern) macht die beiden Medien und Genres vielmehr als integrale Bestandteile der heutigen visuellen Kultur lesbar und rückt somit anstatt der referentiellen Bedeutung des Bilds auf seinen Bildgegenstand den intermedialen Zusammenhang mit anderen Bildern (und Texten) in den Mittelpunkt. Die Grenze zwischen Kunst und Werbung sowie zwischen ästhetischer Betrachtung/Anschauung und visuellem Konsum wird dabei unscharf.

Bereits in der Stilllebenmalerei des 16. und 17. Jahrhunderts lassen sich Formen der Profanisierung, gar der Inszenierung von „Besitz“, erkennen, doch während in diesen Bildern noch ein Verweis auf metaphysische oder religiöse Inhalte zu finden ist – beispielsweise zwei gekreuzt übereinander liegende Fische als Symbol für Christus – fungiert das jeweilige Bildobjekt in den von Farocki untersuchten Werbefotografien, ob nun Geldschein, Käseplatte, Bierglas, oder Uhr, als Objekt konsumistischen Begehrens. Das Bild des Gegenstands, seine piktorale Inszenierung, dient als visueller Anker, als Attraktor.        

Bildbetrachtung (der Stilllebenmalerei) und Bildherstellung (der Werbefotografien) formen bei Farocki ein inszenatorisches und inhaltliches Scharnier: sowohl der Stilllebenmalerei des 16./17. Jahrhunderts als auch der Werbefotografie scheint ein geradezu mystisches Moment inhärent. Ähnlich der verschlüsselten Symbolsprache der Stilllebenmalerei, ihrer transzendenten Anmutung, lässt sich im Herstellen der aufwändigen Werbebildinszenierungen eine rituelle, gar kultische Dimension finden: In vielen Einzelschritten nähern sich die „Fotoarbeiter“ dem Zielbild. Die Wahl des Ausschnitts, der richtigen Linse, das Verhältnis vom Einzelnen zur Gesamtkomposition, die Präparierung der Gegenstände usw.: sämtliche Vorbereitungen münden im „gelungenen“ Bild, wodurch der Akt des Auslösens der Kamera als geradezu „erlösender“ Moment erscheint.
           
Wenngleich sich die Arbeiten Farockis auf den ersten Blick als Dekonstruktion des untersuchten ästhetischen „Produkts“ zeigen, des Discosongs als musikindustrielles Serienprodukt oder der Werbebilder als Evokatoren konsumistischen Begehrens, so nimmt Farocki jedoch keine „exklusive“ Position außerhalb der Beobachtungssituation ein, wissend, dass jegliche Form von Beobachtung mit einer Formatierung des Blicks, einer Konstruktion von Sichtbarkeit, einhergeht. Die dokumentarische Bildregie, die Beobachtung erster Ordnung (Luhmann), die sich auf das Objekt richtet, es „neutral“ und „objektiv“ wiederzugeben scheint, erweist sich selbst als inszenatorischer Akt und als Blickregie. Farockis ästhetische Strategie in So long good-bye und Still Life lässt sich weniger als dokumentarisch-dekonstruierendes Verfahren verstehen und demnach auch nicht auf eine aufklärerische Dimension reduzieren. Die Arbeiten ließen sich vielmehr als ein Denken mit Bildern, ein Denken/Reflektieren mit und entlang von Bildern, beschreiben. Der Künstler verschränkt dabei dokumentarische Bildrhetorik und essayistische Erzählweise. Das Verhältnis von Text zu Bild, von gesprochener Sprache zum Laufbild, ist dabei weder ein einander ergänzendes oder begleitendes noch markiert ein Medium das Apriori des anderen, sondern zeigt sich als intermediale und -textuelle Verweisstruktur.

Sowohl So long good-bye als auch Still Life lassen sich als Zeitdokumente lesen, als Analysen von Bild- und Blickregien im ausgehenden analogen (Medien-)Zeitalter. Sie referieren auf musikalische und visuelle Formensprachen, die heute bereits historisch anmuten. Die Arbeiten fügen in dieser Lesart dem doppelten Blick, der den Arbeiten Farockis inhärent ist, eine weitere Ebene der Distanz hinzu. Der zeitliche Abstand zu 1978 und 1997 schafft eine Rahmung, ein musik-/
bildhistorisches Dispositiv zweiter Ordnung, das den Betrachter zu einer Aktualisierung auffordert: welche Formen ästhetischen Konsums, gar des Eskapismus, lassen sich jenen in So long good-bye und Still Life gegenüberstellen und mehr noch, welche Formen der Verschleierung/Camouflage heutiger Dispositive lassen sich beschreiben? Denn „die Produzenten der (Bild-)Objekte“, so die kommentierende Stimme am Ende von Still Life, „bleiben unvorstellbar“, in jedem Fall aber unsichtbar: „When you look at objects, the people who produced them, remain unimaginable. The spectator who understands this becomes unimaginable to himself.“          

 

David Komary