Künstler: Lothar Baumgarten
Die Ausstellung ACROSS zeigt eine Serie früher SW-Fotografien des deutschen Künstlers Lothar Baumgarten (1944-2018), dessen Werk seit den 1970er-Jahren als subtile, jedoch konsequente Hinterfragung dichotomer Begriffspaare wie Kultur versus Natur oder das Eigene versus das Fremde/Andere gelesen werden kann. In Filmen, Objekten, Installationen, Fotografien, Texten, Wandbildern und ortsspezifischen Arbeiten geht Baumgarten Fragen der Natur, ihrer Ontologie und kulturellen Codierung nach. Er dekonstruiert dabei dialektisch Denk- und Rezeptionsmuster der sogenannt westlichen Welt, insbesondere ihres (eurozentrischen) Blicks auf autochthone, indigene Kulturen Nord- und Südamerikas.
Baumgarten rekurriert mitunter auf Bildrhetoriken und Methoden der Ethnologie und Anthropologie, er lenkt den Blick jedoch stets vom Gegenstand der Beobachtung auf Systeme und Konditionen der Wahrnehmung und Darstellung, der Kategorisierung und kulturellen Codierung, die der Betrachtung vorangehen und sich oft subliminal eingeschrieben finden. Bildgegenstand und mediales wie auch semiotisch-kulturelles Framing zeigen sich aufeinander bezogen, sie unterhalten ein vielschichtiges, reziprokes Verhältnis. Baumgartens inhärent-künstlerische Zeichen- und Repräsentationskritik erscheint aus aktueller Sicht wie die intuitive Antizipation bildethischer und -politischer Fragen, die heute unter postkolonialen Vorzeichen fortgeschrieben werden. Baumgarten, dessen Werk mehrmals auf der Documenta (1972, 82, 92, 97) vertreten war und der 1984 den deutschen Pavillon der 41. Biennale von Venedig bespielte, verbrachte 1978/79 achtzehn Monate bei zwei Volksgruppen der Yãnomãmi, einer zu der Zeit noch weitestgehend unberührten, nichtsesshaften, seither jedoch zunehmend marginalisierten und bedrohten indigenen Ethnie am oberen Lauf des Orinoco im venezolanisch-brasilianischen Grenzgebiet.
Die gezeigte Fotoserie, die Baumgarten 1979 bei den Yãnomãmi Kashorawë-theri gemacht hat, trägt den Titel Makunaíma (River Crossing), sowie den die Lebensweise der Yãnomãmi poetisch umschreibenden Untertitel Ihr Besitz ist nicht größer als die Kraft ihrer Schultern. Die Bildsprache der in nur wenigen Minuten belichteten SW-Aufnahmen ist dabei einer besonderen, höchst situativen Form anteilnehmender Beobachtung geschuldet, die die allzu menschlich und berührend erscheinenden ProtagonistInnen nicht verobjektivierend zum Fremden stilisiert, sondern in ihrem alltäglichen Tun, hier dem beschwerlichen, nicht ungefährlichen Überqueren eines Flusses auf eine den Betrachter involvierende Art und Weise zeigt.
„Die Sequenz River Crossing, eine Serie von 15 Silbergelatine-Abzügen, die in einem Zeitraum von zweieinhalb Minuten belichtet wurde, ist ein Beispiel ethnografisch-dokumentarischer Fotografie in meiner Arbeit. Sie wurde nur möglich durch die Kenntnis der Umstände des Lebens vor Ort und die Bereitschaft, sich ihnen auszusetzen. (…) Neben allen ethnografischen Fakten zeigt sie auch die Verfassung des Fotografen und sagt nicht wenig über die Art seiner Präsenz und Akzeptanz während der Aufnahme aus. Die Gedanken an das Eigene sind anwesend, während die melancholische Reflexion die Ambivalenz des immer neuen Wählens zur Folge hat wie auch die Stelle des Abwartens, des noch nicht Entschiedenen als zeitgewinnendes, lastendes Element, gepaart mit der Sehnsucht nach einem komplexen Begreifen aller Umstände, nicht weicht. Essentiell war und ist, dass sich Form und Inhalt, Anfang und Ende im Kreis vereinen. Im Unscheinbaren liegt oft die Antwort offen bar.“ (Lothar Baumgarten)
Entgegen einer starren Vorstellung indigener Gesellschaften werden die Yãnomãmi hier nicht als schlichtweg Andere, ihr Lebensraum nicht bloß als abstrakte Wildnis gezeigt, Baumgarten zielt vielmehr auf eine alternative und erfahrungsbasierte Erzählung, ganz entgegen wissenschaftlich ausgerichteter, klassifizierender und administrierender Formen der Darstellung. Der Künstler richtet mit seiner situativen und partizipativen Form des Fotografierens den Fokus auf einen „Zustand der inneren Schwebe“, auf den Umstand unmittelbarer Empfindung. Es geht Baumgarten nicht um ein bloßes Sammeln von Bildern, sondern immer wieder um ein Momentum situativer Aufmerksamkeit und Empfindsamkeit, um „den Sinn für die Unmittelbarkeit bei der Umsetzung eigener Wahrnehmung, um die Bildfindung und den vielschichtigen Ausdruck in ihrer Materialisation und Form“.
Natur, die Idee der Wildnis, wird hier nicht als den eigenen souveränen Kulturbegriff legitimierende bedrohliche Größe, also als kulturelles Gegenbild, inszeniert und instrumentalisiert. Die situative Bildsprache Baumgartens erlaubt dem Betrachter vielmehr, ja man könnte sagen, sie bedingt geradezu, sich als BetrachterIn über die räumliche und mehr noch zeitliche Distanz hinweg nicht nur bildlich affiziert, sondern auf zutiefst relationale und empathische Weise – als menschliches Gegenüber – involviert wiederzufinden und darin auch selbst zu erkennen.
David Komary
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