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April – Mai 18

Text | engl. | Abbildungen



Künstler: Sebastián Diaz Morales

Der argentinische Künstler und Filmemacher Sebastián Diaz Morales konfrontiert den Betrachter in seinen Kurzfilmen Pasajes I und II mit einem Kontinuum der Brüche, einer inkommensurablen Abfolge von Aufnahmen unterschiedlichster, meist disparater Räume und Orte. Der Betrachter wird stadtsemiotisch einer subtilen Form von Überforderung ausgesetzt, wobei die Wahrnehmung und Erfahrung von Raum, Ort und Landschaft des Betrachters zum filmischen Beobachtungs-gegenstand avanciert. Diaz Morales’ Bildsprache ist von Einfachheit, von dokumentarischer Schlichtheit, aber ebenso von subtiler Ironie und Skeptizismus gekennzeichnet. Seine Filme muten vordergründig realistisch an, entfalten in ihrem Verlauf jedoch eine sinnbildliche, metaphorische Dimension. Diaz Morales führt den Betrachter in eine phantasmatische, geradezu magische Bildwelt, die aber nicht auf Eskapismus abzielt, sondern subtil und doch schonungslos unsere Vorstellung von Wirklichkeit infragestellt.

Sebastián Diaz Morales’ Verständnis von Wirklichkeit wurde von den Lebensbedingungen und der Landschaft seines Geburtsortes Comodoro Rivadivia wesentlich geprägt, einer Industriestadt an der Atlantikküste in einer rauen Gegend zwischen Atlantischem Ozean und Patagonischer Wüste im südlichen Argentinien mit Windgeschwindigkeiten bis zu 150 km/h. Seine filmischen Befragungen von Wirklichkeit, ob landschaftlich, urban oder auch soziopolitisch, waren von Beginn an geprägt vom grundlegenden Zweifel an der Vorstellung einer einzigen Wirklichkeit. Statt als Medium verlässlicher Abbildung und Aufzeichnung zu fungieren, entwickelte sich die Kamera bei Diaz Morales zum grundlegenden, ja epistemischen Mittel der Wirklichkeitsbefragung und Aneignung.

Diaz Morales’ Auseinandersetzung mit Wahrnehmung und Wirklichkeit fußt auf der Annahme, dass die Wirklichkeit selbst höchst fiktionalen Charakter aufweist. „I am very interested in the notion of reality and fiction. (...) My work explores the boundaries between reality and fiction“, so Diaz Morales. Seine Filme entführen den Betrachter also nicht einfach in eine andere, surreale oder phantasmatische Welt, sondern lassen die vertraute Wirklichkeit entrückt und verfremdet, als eine andere erscheinen. Die Einbildungskraft des Betrachters fungiert bei Diaz Morales nicht als schlichter Gegenspieler zum Realen. Sie wirkt vielmehr als raumevokative und raumdiegetische Kraft, die jenseits unmittelbarer Abbildung die Lücken der Sichtbarkeit schließt und dem Betrachter im filmischen Verlauf sukzessive die Konstruiertheit dessen vor Augen führt, was wir Wirklichkeit nennen. Realität zeigt sich hier als Phantasma, als etwas, das sich immer schon der piktoralen Festschreibung entzieht. Sie ist dem Bild und Blick somit immer schon „ein Stück voraus“.

In Pasajes I und II bewegt sich ein Protagonist, von seiner Umgebung weitestgehend unbemerkt, durch eine schier endlose Folge unterschiedlichster Räume und Orte. Jede Einstellung zeigt Eintreten, Durchqueren und Verlassen des Raumes – etwa eines Ganges, eines Kellers, eines Museums oder einer Hotellobby. Während der Darsteller in Pasajes I (2012) in den einzelnen Einstellungen Räume durchschreitet, bildet Pasajes II (2013) sozusagen die vertikale Variante zu Pasajes I. Der Protagonist durchquert hier nicht Räume, sondern steigt durch filmische Montage endlos aneinandergereihte Treppen und Stiegenhäuser hinauf. Die Idee des Aufstiegs erweitert das filmische Narrativ nicht nur um den Aspekt der Anstrengung, sondern auch um eine ironisch-metaphorische Note, um die Implikation eines unbestimmten Telos.    

Pasajes I führt den Betrachter in ein durch Bildmontage konstruiertes Labyrinth heterogener Räume und Orte in Buenos Aires. Anfangs vermag die eine oder andere Einstellung noch für sich stehend interessant zu erscheinen. Doch die Heterogenität der Orte erweist sich schleichend als Uniformität, vordergründige Verschiedenheit wird zum Vorhersehbaren, denn das Überraschende, Unerwartete, Andere erweist sich als längst miteinbezogene Größe und somit als Konstante. Die strenge Aneinanderreihung der unterschiedlichen Passagen lässt das Geschehen für den Protagonisten als auswegloses und klaustrophob anmutendes Szenario erscheinen. Sein Gehen, seine Suche, scheint stets fortgesetzt werden zu müssen, sodass der Suchende hier zum Gefangenen seiner eigenen Intention  wird.

Das durch die dokumentarische Bildsprache anfänglich evozierte Wirkliche und Authentische weicht einer Bildräumlichkeit von imaginärem Status. Was zunächst als Reales erscheint, verkommt zunehmend zu einem Oberflächenphänomen, dem kein Gehalt mehr zugrunde liegt. Diaz Morales lässt die Bilder vielmehr zu einer optionalen Realität verschmelzen, die den Betrachter nötigt, das als wirklich Angenommene mit Abstand, also in einem veränderten, wenn nicht sogar gestörten Verhältnis zu sehen. „The idea of my work and its process, in general lines, is to find shelter in the world’s body without trying to destroy it, but rather regenerating or revalidating it by creating ways which explore other concepts of its reality.“

In Pasajes I und II schafft der Künstler Raumgefüge aus imaginären Verbindungen, die bloß vermeintlich Reales zeigen und die das sogenannte Wirkliche als Konstrukt und Illusion erscheinen lassen. Er arbeitet mit dokumentarischen Mitteln, mit bildlich-realen Versatzstücken von Wirklichkeit, um diese entkontextualisiert und entsemantisiert in ein Bilduniversum erweiterter bildontologischer Qualitäten überzuführen. Reales, Imaginäres und Projektives werden in dieser Escher’schen Raummatrix zu ebenbürtigen Kräften. Wenn üblicherweise bei der filmischen Wahrnehmung der Betrachter (im Sinne eines wahrnehmenden Bewusstseins) die Position der Kamera zugewiesen bekommt und so die einzelnen Bilder und Einstellungen zu einem kohärenten Ganzen raumdiegetisch zusammenfügt, so findet sich dieses wahrnehmende Bewusstsein bei Diaz Morales nicht nur einer chronischen Überforderung ausgesetzt, es scheint in dieser Funktion geradezu ad absurdum geführt, ja verabschiedet. Die Raumdiegese mündet in architektonische Unmöglichkeiten und in einen topologischen Kollaps. Der jeweilige Ort erscheint nicht nur entterritorialisiert. Diaz Morales zeigt uns ein Sehen ohne eigentlichen Blick, ein Sehen, das weniger vom Finden als vom unablässigen Suchen handelt. Pessimistisch betrachtet könnte man meinen, hier würde ein Übergang vom Sehen zu einer Art Visualisierung gezeigt, ein automatisiertes Sehen, das nur noch entfernt und lose an ein Subjekt gebunden ist oder auf ein solches verweist. In Erinnerung an Platons Höhlengleichnis könnte man das Raumlabyrinth in Pasajes schließlich als Metapher für unsere Konstruktion von Wirklichkeit verstehen. Wir befänden uns demnach eingeschlossen in einem System unterschiedlichster Räume, ohne je selbst und unmittelbar ein Äußeres, ontologisch Reales wahrnehmen und erkennen zu können.

Diaz Morales narrativ-dokumentarischer Bildsprache ist ein tiefliegender Zweifel an der Abbildbarkeit, der Begreifbarkeit der Realität über das Bild inhärent. Reales, Wirkliches, lässt sich nicht als Externes jenseits des Bildes ausmachen, es zeigt sich vielmehr als synthetisierte Wirklichkeit im wahrnehmenden und denkenden, erkennenden Subjekt. Insofern erweist sich die Verbindung von innen und außen, also die Verschränkung innerer (imaginär-phantasmatischer) Bilder mit äußeren, dokumentarischen Bildern bei Diaz Morales nicht als rein ästhetisches Mittel, etwa der Verfremdung, der Irritation. Außen und innen, Reales und Wahrgenommenes bilden vielmehr einen fließenden Übergang. In diesem Sinn ist die „Arbeit“ an der Wirklichkeit ein unabschließbarer Prozess stetigen Fragens, Abgleichens und Neuzusammensetzens.

Diaz Morales lässt seine Protagonisten Räume und Orte durchschreiten, an denen man nicht verweilt, Orte der Passage, die schon an sich als „Ort ohne Ort“ bezeichnet werden können. In der Art und Weise, wie der Protagonist niemals ankommt, scheint sich sein unbestimmtes Ziel, der Grund seines Gehens und seiner Suche, stets weiter zu verschieben. Gerade im Verlauf dieser sich fortschreibenden Suche verformt sich die „aufgezeichnete“ Realität, der Signifikant entfernt sich vom Signifikat. Im filmischen Verlauf wird zunehmend klar, dass es hier nicht um ein Sehen geht, das auf Dokumentieren, auf Verobjektivierung ausgerichtet ist. Durch ästhetische Verfahren wie Montage und semiotische Überlagerung eröffnet Diaz Morales dem Betrachter ein semisurreales Szenario, in dem das handelnde Subjekt (der Protagonist) zunehmend fragil, ja teilweise selbst als Fiktion erscheint. Denn während die Person anfangs in den einzelnen Aufnahmen, die durchaus situativ und dokumentarisch anmuten, noch als Individuum erkennbar ist, wird die Figur durch die Bildraummontagen des Künstlers zunehmend zur bloßen Variable und die  Identifikation des Betrachters mit dem Protagonisten verläuft im Leeren. Der Blick – der des Protagonisten wie auch in Übertragung der des filmischen Betrachters – wird als suchender, als reine Suchbewegung erkennbar und beobachtbar. Der Protagonist, jene „personifizierte Leerstelle“, erweist sich schließlich als subjekttheoretische Herausforderung an den Betrachter. Anstelle eines klaren Identifikationsangebots mit einem „realen“ Subjekt, wird der Betrachter mit einer diffusen Schnittstelle unterschiedlichster Subjektivierungslinien konfrontiert, er wird somit schonungslos zurückgeworfen auf das Provisorische der eigenen Wahrnehmung und Wirklichkeitskonstruktion.

 

David Komary