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Juli – September 19

Text | engl. | Abbildungen



Künstler: Richard Nonas



Almost-clarity about not-quite-confusion is what I want. Barely perceptible dissonance is what I want — the dissonance of place, the dissonance of art, the dissonance, I mean, of intersecting and conflicting human meaning cut into an unyieldingly physical world.Richard Nonas


Die Werke von Richard Nonas (geb. 1936 in New York) sind von formaler Schlichtheit und Rigidität des Materials gekennzeichnet. Einfache, zumeist geometrische Formen minimalistischer Anmutung aus Holz, Stahl oder Stein bilden „Vokabeln“ seiner oftmals seriell-repetitiv strukturierten Raumskulpturen. Nonas versteht sich jedoch nicht als Minimalist, er interessiert sich weder für die reine Form der Skulptur, ihren minimalistischen Eigenwert, noch legt er den Fokus auf Materialsprachliches. Nonas’ Werke leben wesentlich von der Beziehung der Raumskulptur zum umgebenden Raum, zum Ort. Das eine ist ohne das andere nicht denkbar. Er schafft mit formensprachlich einfachsten Mitteln räumlich-skulpturale Situationen, die potentiell das gesamte Spektrum menschlicher Empfindung adressieren und auch auf subtile Weise Resonanzen zu Erinnertem und Emotionalem miteinbinden. Der Anschauung, der Wahrnehmungstätigkeit der BetrachterInnen, kommt somit ein wesentlicher Stellenwert zu.

Richard Nonas’ skeleton-cuts, line by line ist eine für das Gebäude der Galerie Stadtpark eigens entwickelte Raumskulptur, die nicht nur den Ausstellungsraum, sondern auch den Eingangsbereich der Galerie räumlich-skulptural befragt und miteinbezieht. Nonas implementiert eine Struktur in die bestehende Gebäudestruktur, eine Architektur in die vorhandene Architektur des modernistischen Galeriegebäudes. Skeleton-cuts, line by line lässt sich als aus gleichmäßig positionierten Holzkuben gebildetes Strukturgefüge verstehen, das Galerieraum und Eingangsfoyer der Galerie Stadtpark verbindet, zugleich aber – durchaus invasiv – durchdringt. Die zum Grundriss des Bauwerks leicht gedrehte Längsachse des skulpturalen Gefüges wird in Hauptraum und Foyer von weiteren Holzkubenreihen rechtwinkelig touchiert. Die geschaffene Struktur tritt in ihrer Gesamtheit in einen räumlich-relationalen Dialog mit dem umgebenden Raum und konterkariert auf subtile Weise die Orthogonalität und Klarheit des Gebäudes. Die Interferenzen der beiden Raumstrukturen (von Galeriegebäude und orthogonalem Holzkubengefüge) führen dabei weit über eine raumgeometrisch-abstrakte oder minimalistische Lesart hinaus, sie schaffen vielmehr eine eigenständige Form von Räumlichkeit: In der Durchdringung der beiden Raummatrizes bildet sich eine Art dritter Raum, dem ein eigenständiger und doch ambivalenter Status zu eigen ist. Nonas’ strukturelle Intervention macht hier Raum per se zum Material. Die vorsichtige und doch zugleich invasive Setzung der Raumstruktur lässt das Räumliche – im Sinne eines Verräumlichens – zum zentralen ästhetischen Gegenstand avancieren. Form, Raum und spezifischer Ort werden hier nicht einfach erkannt oder vorgefunden, sondern im Wahrnehmen geformt und mit hervor gebracht.

Die aus regelmäßig platzierten Kuben konstituierte Raumstruktur mutet fragmenthaft und skelettartig an. Sie funktioniert nicht formal autonom, im Sinne einer vom Raum unabhängigen minimalistischen seriellen Skulptur, sondern lässt sich vielmehr als Gefüge aus Trägerlinien, imaginären Volumina und angedeuteten Richtungen und Raumlagen verstehen, das seine spatiale Präsenz und Dynamik relational zum Umgebungsraum entwickelt und den Betrachter dadurch unausweichlich involviert. Die seriellen Kubenreihen können als potentiell expansive Struktur durchaus fortsetzbar gedacht werden, zumindest an jenen Stellen, an denen sie auf Glasflächen des Gebäudes treffen. Umgekehrt wird die potentiell erweiterbare Struktur von den Wänden des Ausstellungsraumes und Gebäudes begrenzt und die imaginäre Erweiterung arretiert. Bei diesem in hohem Grade mentalen Vorgang des „Raumbildens“ wird der aktuelle Standpunkt des Betrachters zu einem wichtigen Dreh- und Angelpunkt.

An verschiedenen Stellen der Ausstellungsräumlichkeiten sind insgesamt sechs Wandelemente angebracht, vier davon im Hauptraum und zwei im Foyer. Diese Wandelemente – aus jeweils zwei Holzscheiten des gleichen Holzes wie die Bodenelemente – bilden keine eigenständigen skulpturalen Einheiten, sondern fungieren als räumliche Markierungen, die die Funktion der Wand als Raumgrenze betonen. Damit ist weniger die Begrenzung des Ausstellungsraumes gemeint als vielmehr die Begrenzung der von den Holzkubenreihen eingefassten Raumsegmente. Diese Räume im Raum weisen keine rechten Winkel auf und stellen sich, wie das gesamte, im Verhältnis zum Gebäude „verdrehte“ Strukturgefüge, der formalen Klarheit und Autorität des Ausstellungsraumes entgegen.

Nonas schafft mit formal einfachen Mitteln „unklare“ ästhetische Situationen. Der Status der anfangs übersichtlich wirkenden Raumskulptur erscheint bei längerer Betrachtung zunehmend ambivalent. Skeleton-cuts, line by line wird im Wahrnehmungsverlauf zum potentiellen Träger und Evokator unterschiedlichster Aufladungen, der einzelne hölzerne „Baustein“ erscheint so als eine Art Vokabel eines sich vorm Betrachter sukzessive entfaltenden (polysemen) Bedeutungsfeldes, das sich eindeutigen begrifflichen Festlegungen jedoch entzieht und auch zwischen unterschiedlichen Zeithorizonten – zwischen Vergangenem, Aktuellem und Zukünftigem – changiert. Die bloße Fokussierung auf das Hier und Jetzt der Betrachtung würde in jedem Fall zu kurz greifen. Nonas’ skulpturales Raumgefüge zielt weder auf bloße unmittelbare kinästhetische Erfahrung „am Objekt“ noch auf eine den Materialstatus transzendierende Kontemplation, etwa zugunsten einer „reinen“, autonomen, geometrischen-seriellen Form. Jenseits der Wahrnehmungsprimate des Minimalismus sucht der Künstler einen Raum, ja einen Ort der räumlichen Verdichtung und Überlagerung zu schaffen, einen „place“ anstelle eines bloßen „space“, also einen ganz und gar spezifischen Ort, der sich als „physical space imbued with human meaning“ (Nonas) beschreiben lässt.

Für Richard Nonas vermag ein Gegenstand ontologisch weitaus mehr als sein bloß materieller Status vermuten ließe. Materieller und evokativer Gehalt eines Objektes oder einer Raumskulptur scheinen bei Nonas stets signifikant zu divergieren. Was auf den ersten Blick einfach erscheint, eröffnet alsbald unterschiedliche, durchaus widersprüchliche Resonanzen. Nonas’ Arbeiten lassen sich daher auch gattungsgeschichtlich nur schwer bestimmen oder festlegen. Sie sind einmal mehr skulpturale Intervention, ein anderes Mal architektonisches Environment, dann aber wieder räumliche Geste oder mnemischer Resonanzraum. Die raumstrukturellen Eingriffe sind stets minimaler, nicht aber minimalistischer Natur. Mit einfachen materiellen und strukturellen Setzungen stört der Künstler vorsichtig die räumliche Syntax des gegebenen Ortes (Ausstellungsortes). Er lenkt den Fokus des Wahrnehmungsprozesses weg vom Ding, vom Gegenständlichen, hin zum Räumlichen selbst. Der Betrachter wird nicht so sehr mit der Frage konfrontiert, was er sieht, sondern was sich am Räumlichen für ihn zeigt, was für ihn zur Erscheinung gelangt und was jener spezifisch ästhetische Ort – durchaus persönlich – für ihn bedeutet.

Nonas schafft ein räumliches Szenario, das bei längerer Betrachtung eine Mannigfaltigkeit möglicher Bedeutung, also eigentlich ein Übersemantisches hervorbringt. Hierbei geht es nicht um Inhaltliches im Sinne sprachlicher oder narrativer Aufladung, Interpretation oder Konnotation, sondern um Bedeutung vor und jenseits der Sprache, also nicht um ein epistemologisches, sondern um ein ästhetisches Vermögen, das sich, in in hohem Maße intuitiv, ungerichtet und diffus artikuliert. Das Moment der Aufladung und semantischen Evokation schafft einen Raum vielgestaltiger Resonanzen, die bewusst und ganz entgegen dem Diktum minimalistischer Entsubjektivierung Persönliches, also Erinnertes, Emotionales und Projektives mit einbinden. Dieser potentielle Resonanzraum eines Dinges, einer Skulptur, oder des geschaffenen spezifischen Ortes, bleibt semantisch vage mit der Tendenz eines „zu viel“ an Bedeutung. Der Künstler macht den Rezipienten auf diese Weise zu einem aktiv Wahrnehmenden, der dem Gesehenen präkognitiv und semantisch unscharf Bedeutung abringt.

Nonas’ Arbeiten zielen auf Mehrdeutigkeit und Ambiguität, sie versuchen einen Zustand inhaltlicher Schwebe herzustellen, der sich einer Trennung der Wahrnehmung in Perzeptives und Mentales, in Sinnliches und Epistemisches, verweigert und entgegenstellt. Der Grenzverlauf zwischen unterschiedlichen Erkenntnisqualitäten und -formen zeigt sich bei Nonas durchlässig und osmotisch, dennoch ist er nicht an Dekonstruktion interessiert. Er arbeitet inhaltlich gezielt mit fehlender Klarheit, unterwandert bewusst semantische Eindeutigkeit, um einen Zustand der Ambiguität am Ort und im Hier und Jetzt zu generieren. Je weniger „ausgesprochen“ und artikuliert die evozierten Gegensätze sind, desto stärker und künstlerisch verbindlicher ist das Werk. Nonas schafft in skeleton-cuts, line by line somit einen spezifischen Ort, der nicht nur zwischen Wissen und Nichtwissen, zwischen sinnlicher Erkenntnis (mannigfaltiger Erscheinung) und epistemologischer Unschärfe, changiert sondern auch zwischen diesen vermeintlichen Gegensätzen zu vermitteln vermag. Es geht ihm um Nichtwissen als eigene Form des Wissens, um ein Wissen, das Präkognitivem, Kognitiv-Diffusem sowie der Ahnung, also dem Noch-nicht-Verstehen, Rechnung trägt. Denn um den Dingen nahe zu kommen, den Grenzen der Erkenntnis begegnen zu können, bedarf es, so der Künstler, weniger der Rationalität als der Ambiguität.

Richard Nonas sucht raumästhetisch nach jenem Moment, in dem ein vorhandenes, vertrautes Ding, ein Raum oder ein Ort zu etwas anderem wird. „Die Dinge, die wir gewohnt sind zu sehen, sehen wir kaum. Und plötzlich ist da ein Moment, ein anderer Blick, und man sieht etwas, das wohl schon immer da war, aber nicht wahrgenommen wurde. [...] Wenn man es dann aber einmal gesehen hat, kann man es nicht mehr nicht sehen.“ Diese Modifikation des Blickes meint keinen bloßen Perspektivwechsel, sondern markiert einen Bruch im Wahrnehmungskontinuum, im Vertrauten. In jenem Moment der Transformation, in dem Wahrnehmen, Denken und Fühlen schließlich wie selbstverständlich ineinander greifen, verschiebt sich etwas, das subjektiv die Welt potentiell anders und transformiert erscheinen lässt. Eine subtile raumontologische Irritation vermag so zu einer grundlegenden epistemischen Eruption führen, die nicht bloß auf Sehen und Wahrnehmung rückwirkt, sondern, viel umfassender, auf das gesamte Sein des Betrachters.

David Komary