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Oktober, November 16

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Künstler: Michal Škoda, Dorota Walentynowicz

Die in der Ausstellung reciprocal vertretenen KünstlerInnen verbindet die Frage nach dem Verhältnis von Bild, Blick, Subjekt und Raum. Sowohl den Zeichnungen, Collagen und Fotografien von Michal Škoda als auch den Fotos und Kameraobjekten von Dorota Walentynowicz sind Raumreflexität und phänomenologische Herangehensweise immanent. Der Körper bildet, wenn auch in den Arbeiten selbst nicht unmittelbar sichtbar, auf paradoxe Weise das abwesend-anwesende Zentrum der Wahrnehmung. Während bei Škoda der Körper im Kontext architektonisch und urban anmutender Räume als Träger des Blicks fungiert, fokussiert Walentynowicz die Blickregie des fotografischen Bildes. Indem sie den Apparat zum beinahe körperlichen Gegenüber des Betrachters werden lässt, macht sie das Kameradispositiv selbst beobachtbar und lenkt den Blick auf jene unsichtbaren Konstituenten des Blickes, die sich der fotografischen Bildräumlichkeit subliminal einschreiben.

Eine auf den ersten Blick bloß pragmatische Gemeinsamkeit bildet der Gastaufenthalt der beiden KünstlerInnen bei AIR–Artist-in-Residence Krems, dem Residencyprogramm des Landes Niederösterreich, mit dem die Galerie Stadtpark seit seinem Bestehen (seit dem Jahr 2000) kooperiert. Für die kuratorische Zusammenführung in reciprocal waren die jeweiligen abschließenden Atelierbesuche ausschlaggebend. Die Arbeiten von Škoda wie auch die von Walentynowicz vermittelten etwas Befremdliches, ein Moment der Entpersonalisierung, ob in Form der latent dystopischen Anmutung der Objekte Walentynowicz’ oder angesichts der bildräumlichen Leere
und Absenz bei Škoda. Der Betrachter, anfänglich ein wenig befremdet und verstört, wird bei beiden KünstlerInnen auf subtile Weise in seiner kinästhetischen Gesamtheit, als aktiv Wahrnehmender, adressiert und perzeptiv involviert.

Das Medium der Fotografie ließe sich als weiterer signifikanter Berührungspunkt der Arbeiten von Škoda und Walentynowicz benennen. Doch während sich Škoda selbst keineswegs als Fotograf versteht, sondern das fotografische Bild funktional als ein Bildmedium neben anderen, etwa der Zeichnung, bedient, ist Walentynowicz’ Auseinandersetzung mit Fotografie Medienreflexivität inhärent. Walentynowicz untersucht das Medium „von innen“ heraus und macht das apparative System der Kamera zum zentralen Untersuchungsgegenstand. Fotografie bildet somit eine formale Gemeinsamkeit, ein Feld ästhetischer Analogie und Überschneidung, das zugleich aber auch signifikante Unterschiede des Bild- und Raumverständnisses zutage treten lässt.

Michal Škodas Auseinandersetzung mit der Wahrnehmung von Raum ist grundlegend phänomenologisch ausgerichtet. Architektur und urbane Strukturen bilden formal betrachtet zwar den piktoralen Untersuchungsgegenstand, Škoda interessiert sich jedoch weniger für die Formen an sich, ihre morphologische Erscheinung oder geometrische Struktur, er untersucht Raum nicht im gegenständlichen Sinne, er fragt stattdessen nach der Erfahrung von Raum. Seine Bilder widerspiegeln somit auch stets die zeitliche Dimension räumlicher Erfahrung. Škoda zeigt Wahrnehmung mit erinnerten, aber auch imaginierten Anteilen des Blicks verwoben. Einerseits fragt der Künstler nach den Grenzen des wahrgenommenen Raumes, andererseits versteht er Erinnerung und Vorstellungskraft als mentale Agenzien, die gesehenen Raum potentiell überwinden, erweitern und transformieren lassen. Die unterschiedlichen Zeichnungen, Collagen und Fotografien Škodas sind daher auch weniger als in sich geschlossene piktorale Einheiten zu sehen, sie bilden vielmehr Auszüge eines sich stetig fortschreibenden Wahrnehmungskontinuums von Raum.

Mit Fokus auf die Temporalisierung von Wahrnehmung konzentrierte sich Škoda während seines Gastaufenthalts bei AIR Krems im Frühjahr 2015 vorwiegend auf das Medium der Zeichnung. Škoda wollte die Räume, auf die er sich in diesen Arbeiten bezog und die wesentlich seinem alltäglichen Umraum entstammten, nicht darstellen, also weniger ein ästhetisches Analogon ihrer Erscheinung finden, als vielmehr eine piktorale Entsprechung für deren „mentale Resonanz“, die Erinnerung, schaffen. Zu „erkennen“ sind in diesen Zeichnungen – in der hier gezeigten Bildkonstellation aus Time and Environment finden sich ähnliche Bilder wieder – grundrissartige Schemata, die gänzlich in Schwarz-Weiß gehalten sind. Der Bildraum, der die ausgesparten, grundrissartig-geometrischen Formen umgibt, ist dabei zur Gänze mit Bleistift ausgefüllt, sodass ein zeichnerischer Duktus kaum mehr zu erkennen ist. Stattdessen lässt die Unregelmäßigkeit der metallisch reflektierenden Oberfläche des Graphits den eigentlichen Bildhintergrund räumlich hervortreten und zur räumlichen Negativform werden. Škodas Aufenthalt lässt sich somit durchaus als kontemplative Befragung des urbanen und architektonischen Raumes verstehen, wobei Kontemplation nicht das Innehalten vor einem ruhenden Anschauungsgegenstand meint, sondern Reflexion über räumliche Wahrnehmungsprozesse und deren Spuren im mentalen Apparat des Sehenden.

Škoda betreibt in Time and Environment seit nunmehr 2011 eine Form von visuellem „Tagebuch“, das sich aus Fotografien, Collagen und Zeichnungen alltäglicher Raumeindrücke und -erfahrungen des Künstlers zusammensetzt. Škoda geht es dabei nicht um kontinuierliche „Eintragungen“, auch nicht um eine Art Selbstvergewisserung durch die Schaffung einer zeitlichen Struktur. Fotoaufnahmen und Zeichnungen entstehen vielmehr geradezu situativ, aus jeweils höchst intuitivem Anlass. Dementsprechend bediente sich Škoda dieses Bildfundus bei der Auswahl zur gezeigten Bildinstallation gleichermaßen frei kombinierend, „gerichtet ungerichtet“. Die Organisation des Blickfelds, die Komposition, ist keinerlei strukturellen Logik oder zeitsemantischen Struktur geschuldet.

Zeichnung und Fotografie bilden in Škodas piktoralen Aufzeichnungen nicht nur ein selbstverständliches Nebeneinander, sondern weisen bildsprachliche Analogien und Überschneidungen auf. Škoda verwendet unterschiedliche Bildmedien, um auf verschiedene Modalitäten der Wahrnehmung zu verweisen, und bedient sich der jeweiligen medialen Spezifika, um sowohl den räumlich-situativen als auch den zeitlich-prozessualen Aspekten der Raumwahrnehmung gerecht zu werden. Die unterschiedlichen Bildsprachen innerhalb hier gezeigten heterogenen Bildgefüges aus Time and Environment – von geometrisch konturiert bis fotografisch-unscharf – lassen sich daher auch nicht als einander ausschließende Raumvorstellungen verstehen, sie bilden vielmehr Entsprechungen unterschiedlicher Anteile des Blickes und sind einer Raumidee geschuldet, die Retention und Protention, Erinnerung und Projektives, gleichsam mitdenkt.

Wenngleich Škodas Bilder stets menschenleer sind, so rekurriert seine Arbeit doch auf eine betont subjektive Vorstellung von Wahrnehmung. Die formale Strenge zielt nicht auf ein bestimmtes, etwa minimalistisches Formenideal ab, auch nicht auf die Evokation eines souveränen, alles überblickenden Betrachterstandpunktes. Škoda fügt die unterschiedlichen Bilder dergestalt zusammen, dass sich für den Betrachter eine Art mental-projektiver Raum eröffnet, der sich aus dem losen und polysemen Zusammenspiel der einzelnen Raumbilder konstituiert. Der Betrachter ist aufgefordert, sich Raum bildraumdiegetisch selbst zu erschließen, indem er die Lücken zwischen den Bildern selbst schließt. Die Bewegungen im Ausstellungsraum, das Raumhandeln des Betrachters, wird zum selbstverständlichen Teil dieser konkretisierenden Bildlektüre, die ein rein visuelles oder semiotisches Bildverständnis überwindet. Škodas Arbeit evoziert rezeptionsästhetisch einen inkohärenten, veränderlichen Raum, der den Betrachter der eigenen, den Raum mithervorbringenden Wahrnehmungshandlung gewahr werden lässt.

Das Medium der Fotografie bildet zwar eine signifikante Gemeinsamkeit von Michal Škoda und Dorota Walentynowicz, doch während Škoda das fotografische Bild funktional bedient, steht bei Walentynowicz der Apparat, das fotografische Dispositiv selbst, zur Diskussion. Dorota Walentynowicz rückt die medialen Bedingungen des Blickes ins Zentrum der Auseinandersetzung. Sie stellt dabei nicht bloß die Autorität
des Kameraauges infrage, sondern versucht zudem auch auf jene Intentionen zu verweisen, die hinter dem Bild, dem Blick, dem Dispositiv stehen. Wer reguliert die Sichtbarkeit wessen und wovon, wer macht ein Bild von was, von wem und warum?

Das Verhältnis von Bild und Apparat zeigt sich bei Walentynowicz geradezu invertiert. Dem Bild kommt ein experimenteller und peripherer Status zu. Jenseits jeglicher piktoral-gestalterischer Absicht erscheint es als reine fotoindexikalische Aufzeichnung einfallenden Lichts. So geben die Fotografien Filmset I und II Signaturen sich im Raum bewegender Lichtpunkte wieder, die sich scheinbar wie von selbst am lose montierten Filmmaterial einer selbstgebauten Camera obscura einschreiben. Während das Bild jegliche raumdarstellende Funktion aufzugeben scheint, verräumlicht Walentynowicz die Apparatur selbst. Dabei lässt sie ihre Kameraobjekte in den Serien Folds (2012) und If Everything is Repeating (2014) gebäudeähnlich erscheinen oder in den Serien Ubu Roi (2013) und Algebra of Fiction (2013) geradezu gestaltähnliche Form annehmen. Die Kameraobjekte bilden räumlich ebenbürtige Gegenüber des Betrachters und kehren die räumliche Kausalität fotoräumlicher Abbildung in gewisser Weise um. Sie lassen sich als invertierte, nach außen gestülpte Kamerainnenräume verstehen. Als hätten sie versucht, ihr Inneres nach außen zu kehren und als wollten sie der an Immaterialität grenzenden Körperlosigkeit des fotografischen Bildes eine manifeste, räumliche Gestalt gegenüberstellen.

Walentynowicz verleiht den Apparaten gestalthafte Präsenz. Die offenkundige Gebasteltheit der Kameraobjekte, ihre modellhafte Erscheinung und improvisierte Materialsprache aus Sperrholz und Karton, lässt sie zwischen unfertigem Prototyp und dystopisch anmutender Sehmaschine changieren. Walentynowicz bringt den Betrachter kurzzeitig in eine durchaus ambivalente Situation, ein Wechselspiel aus Neugier, Interesse und Unbehagen, wenn nicht gar Beklemmung. Der Betrachter kann nicht sicher sein, ob diese Sehmaschinen nicht noch zu sehen, zu überwachen, imstande sind. Bei näherem Hinsehen büßen die Kameraobjekte jedoch jegliche Autorität und Souveränität ein, sie erweisen sich als fragil, muten unsicher, fast verletzlich an. Die drei stativähnlichen Camera-obscura-Objekte in der Serie Algebra of Fiction lassen an eine Kleinfamilie hochbeiniger Gestalten denken, während die zwei bodennahen Kameraobjekte in Ubu Roi wie ein zum Betrachter aufschauendes Paar wirken.

Die animistische Präsenz von Walentynowicz’ Kameraobjekten ist der Emanzipation von ihrer herkömmlichen Funktion geschuldet. Die Objekte haben das Schema Bild-Blick-Kamera (Dispositiv) verlassen. Sie wirken, als wäre es ihnen gelungen, sich von ihrem ursprünglichen Zweck zu lösen und ihrem entpersonalisierten Sein zu entkommen. Ein Aufstand kleiner visueller Überwacher, die gegen die Instrumentalisierung des eigenen (Kamera-)Blicks aufbegehren. In ihrer gruppenartigen Aufstellung im Raum scheinen die Kameraobjekte nunmehr Bewegungen im Raum anzudeuten, ihre gestalthafte Erscheinung und ihr „körperliches Ausdrucksvermögen“ lassen sie zu potentiellen Protagonisten eines räumlich-situativen Szenarios, einer Performance, avancieren, die den Betrachter einbindet und gar in die Choreographie miteinbezieht. Blickregie von Betrachter und Apparaten treten hierbei miteinander in Interferenz und lassen die Rollen von Beobachter und Beobachtetem ineinander umschlagen.

In den Arbeiten beider KünstlerInnen finden sich Momente der Irritation und der Verstörung – ob in der Konfrontation mit der piktoral-räumlichen Leere in den Bildern Škodas oder in der räumlichen Gegenüberstellung des Betrachters mit den animistisch-dystopisch anmutenden Sehmaschinen von Walentynowicz. Das anfängliche Unbehagen wird von den KünstlerInnen jeweils ästhetisch konterkariert. Walentynowicz bricht den Ernst von Bildkritik und Hinterfragung des Blickregimes durch ein geradzu ironisches Moment, indem sie Apparaturen unbeholfen, ja sympathisch zeigt. Škoda hingegen stellt im interpiktoralen Zusammenspiel seiner Fotografien, Collagen und Zeichnungen der vordergründig nüchtern-geometrischen Anmutung gar poetisierte Momente fotografischer Bildlichkeit gegenüber und verschiebt den Fokus von den einzelnen Bildereignissen auf eine dezidiert subjektive Form räumlichen Sehens.

Raum, die letztlich abstrakteste Gemeinsamkeit der beiden KünstlerInnen, zeigt sich sowohl bei Škoda als auch Walentynowicz als medienontologisch vage und daher Gegenstand stetiger Verhandlung. Er ist nicht äußerlich vorhandene und abbildbare Gegebenheit, sondern sich prozessual konstituierender mentaler Gegenstand. In diesem Sinn lenkt Michal Škoda den Fokus auf jene der Raumwahrnehmung innewohnenden Unbestimmtheiten, die den Betrachter, den Sehenden, perzeptiv wie kognitiv herausfordern und auf diese Weise der eigenen Tätigkeit des Blickens gewahr werden lässt. Bei Walentynowicz wird hingegen jene Apparatur, die die Bildräumlichkeit erst mithervorbringt, auf charmante Weise zum Gegenüber des Betrachters. Der fotografische Bildraum, wird, wenn auch piktoral entmystifiziert, nicht dekonstruiert oder negiert, stattdessen wird der Betrachter im Sinne einer reflexiven Selbstermächtigung auf die Unzulänglichkeiten und die Konstruiertheit des apparativen Blicks verwiesen. Mit einem Augenzwinkern verweisen die Arbeiten jenseits ihrer dispositivtheoretischen Dimension letztlich auf die Medialität und die Unwägbarkeiten jeglichen Sehens, ja jeglicher Wahrnehmung.

 

David Komary