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April – Juni 19

Text | engl. | Abbildungen


Künstler: Johann Lurf

The night sky starts to feel like a surface; sometimes impenetrable, sometimes malleable, teasing the mind to make whatever tangible associations it can. This allows ★ to become a truly participatory experience, saying as much about our expectations of visual culture as it does the various technological advancements that cinema has used to fuel spectacle.
Andrew Northrop


Die Einzelausstellung In Sequence of Appearance zeigt eine Konstellation zweier Filme des österreichischen Künstlers und Filmemachers Johann Lurf. Während der fast zweistündige Hauptfilm mit dem Titel ★ eine strikt nach Erscheinungsdatum der Originalfilme geordnete Abfolge von Sternenhimmelsequenzen vorstellt, setzt sich der Kurzfilm Capital Cuba strukturalistisch und beinahe abstrakt mit der Atmosphäre und latent dystopischen Anmutung des Hafens in der Bucht von Havanna auseinander. Trotz oder vielleicht gerade aufgrund der strukturellen Rigidität entfalten die Filme eine höchst affizierende und immersive Dimension. Im Film ★ wird der Betrachter mit einem Kontinuum imposanter Ausblicke eskapistischer Dimension konfrontiert, die den Blick jedoch allmählich subtil an ihn zurückwenden, sodass dieser Film zu einem das Medium Film, die Wissenschaft und die Metaphysik verbindenden blick- und ideengeschichtlichen Reflexionsmedium wird.

Rezeptionsästhetisch setzt ★ (2017/2019) den Betrachter einer Abfolge raumdiegetischer Brüche aus. Der Filmschnitt erfolgt entsprechend der Dauer der jeweiligen Found-Footage-Filmsequenzen, der Ton wird einfach mitgeschnitten, sodass keinerlei Übergänge die aufeinanderfolgenden Ausschnitte miteinander verbinden oder ineinander überleiten. Der Betrachter, zugleich Hörer, wird genötigt, sämtliche Brüche radikal nach zu vollziehen. Wenngleich die Erscheinungsformen und Darstellungsweisen der Sternenhimmel sich oft auf unterhaltsame Weise voneinander unterscheiden, ist die perzeptive und kognitive Herausforderung an den Rezipienten auf akustischer und klangräumlicher Ebene sogar noch bestimmender als auf visueller, da das akustisch evozierte Raumszenario, ob hervorgerufen durch Musik, Stimme(n) oder Geräusch, das Gesehene, den jeweiligen Sternenhimmel, grundlegend überlagert und überformt.

Die eigentliche Konstante ist weniger der Sternenhimmel oder der Weltraum, sondern der permanente raumdiegetische Wechsel und Zeitsprung. Statt Kohärenz (der Erzählung) und Entsprechung (von Bild und Bildgegenstand) bestimmen Kontextbruch und Dissoziation das Geschehen, statt der sublimen bildlichen „Präsenz“ von Unendlichkeit (Weltall/Universum) wird der Betrachter auf die Begrenztheit perzeptiver Wahrnehmung und bildlicher Aufzeichnung zurückgeworfen. Das „Vorüberziehen“ von über 580 Filmen lässt den Betrachter zu einer Art Passagier der Filmgeschichte von 1905 bis 2019 werden. Damit nicht genug, wird der Film konsequenterweise, in Analogie zur Idee von Unendlichkeit, jährlich um die neu hinzugekommen Nachthimmelsequenzen aus aktuellen Filmproduktionen sowie neu gefundenem Archivmaterial erweitert. Immer wieder lässt ★ in Momenten des Wiedererkennens bestimmter Filmausschnitte die Bedeutung des Mediums Film für unser kollektives visuelles Gedächtnis erkennbar werden. Während die ältesten Filmsequenzen noch tonlos sind, sieht sich der Zuschauer im Verlauf des Filmes mit einer Art medientechnischer Evolution konfrontiert. Die Bilder werden sukzessive größer, nehmen Farbe an und weichen zunehmend animierten und generierten Bildwelten im Kinobreitbildformat. Anfangs noch stumm, entwickelt sich der Ton von Mono zu Stereo, um schließlich im immersiven All-Over des Surround-Sounds aufzugehen. Der Film ★ zeichnet sich somit nicht nur durch eine filmhistorische, ja filmanthropologische Ebene aus, die die Verbindungen von Technikgeschichte, (Populär-)Wissenschaft und Metaphysik ergründet, er umreißt auch eine Ikonografie des Sternenhimmels. Der Nachthimmel fungiert dabei als Chiffre, um über Genese und Zustand der heutigen visuellen Kultur zu reflektieren.

Obschon es in ★ vordergründig um Erscheinungs- und Darstellungsformen geht, lässt sich alsbald erkennen, dass Lurf sich mehr für die Idee als bloß für die visuelle Erscheinung des Sternenhimmels interessiert. Im Prinzip geht Lurf streng konzeptuell vor. Er verwendet ausschließlich Filmsequenzen, die Nachthimmel ohne jeglichen Verweis auf die menschliche Existenz zeigen, sodass sich der Fokus auf Abstraktes, wie den Widerstreit von Licht und Dunkel, die Vorstellung des Nichts und die Idee der Unendlichkeit verschiebt.

Sternenhimmel lassen sich filmisch nicht oder nur kaum abbilden, Lichtstärke und Bildinformation sind zu gering und flüchtig, um filmisch signifikante Spuren zu hinterlassen. So sahen sich Film und Kino von jeher genötigt, Substitute und Simulakren herzustellen und anzubieten. Der Sternenhimmel als Synonym für Universum, Kosmos, Sein, ja Schöpfung, stünde eigentlich für etwas Konstantes und Absolutes, etwas, das jenseits menschlichen Zutuns für sich existierte. Lurf zeigt dem Betrachter anstelle eines Bildes von Absolutem jedoch ein per se unmögliches Bild, eine beinahe endlos erscheinende Abfolge von Surrogaten und mimetischen Täuschungen. Das Staunen, der Eindruck des schaurig Schönen und Erhabenen verläuft hier radikal im Leeren.

Wir sehen uns in ★ ideen- und bildgeschichtlich mit einer Fülle unterschiedlichster Versuche konfrontiert, der Vorstellung und dem jeweils gesammelten Wissen über das Weltall Gestalt zu verleihen. Das Bild vom Weltraum basiert von jeher auf Vorstellungen, Projektionen und Hoffnung. Hier fungiert der Sternenhimmel als semantisches Feld, in dem sich Wissen (Wissenschaft), Vorstellung (Hoffnung, Sehnsucht) und Metaphysik (Glauben) treffen. Der suchende Blick nach oben, in die Weite, Ferne und Dunkelheit, lässt den Sternenhimmel zu einem Raum ästhetischer und epistemischer Unbestimmtheit werden. Das Bild der Sterne und des Alls wird dabei zur Schlüsselmetapher für Sehen und Erkennen per se. Die von Lurf verwendete Technik des Supercut, der radikalen Montage von Found-Footage-Material, lässt hier sukzessive ein Schichtenbild „gestapelter Illusionen“ (Danielle Burgos) entstehen, das eine neue und andere Wahrheit des Filmbildes hervorzubringen vermag. Bei Lurf treffen die Fertigkeiten von Spezialeffektkünstlern, Bild- und Blickregimes aus Technik und Wissenschaft und metaphysische Aufladungen auf engstem Raum aufeinander. Das filmische Sternenbild ist bei Lurf demnach nicht neoromantischer Eskapismus, es perpetuiert nicht den schlichten,  staunenden Blick in die Ferne, sondern zeigt den immer wiederkehrenden Versuch, dem, was sich der Sichtbarkeit und Fassbarkeit entzieht, eine wahrnehmbare Form zu verleihen. Der Blick wird hier mit seiner eigenen Begrenztheit, seinem Unvermögen, zugleich aber mit seinen Allmachtsansprüchen und seiner auktorialen Selbstüberschätzung konfrontiert. Der Mensch schaut sich hier als denkendes, fragendes, suchendes und erkennendes Wesen in den Spiegel. So gesehen handelt ★ weniger von Darstellungsweisen oder von der Möglichkeit und Unmöglichkeit von Abbildung, sondern rollt die ideengeschichtliche und epistemologische, ja letztlich existentielle Frage des eigenen Seins im Verhältnis zum Seienden, zum Sein per se, auf.

Die Verbindung des Filmes ★ mit Capital Cuba (2015), dem zweiten Film der Ausstellung, lässt sich weniger über den dargestellten Ort oder Bildgegenstand (Sternenhimmel oder Hafen) herstellen, als über den streng-strukturalistischen Umgang mit dem Laufbild. Das filmische Material bilden hier nicht Found-Footage-Sequenzen, sondern eigene Aufnahmen von Lurf, die er während eines längeren Aufenthaltes auf Kuba im Jahre 2015 gemacht hat. Der filmische Schauplatz sind Orte in der Bucht von Havanna. Lurf fuhr täglich die Fährenstrecke zwischen dem alten Havanna und Casa Blanca entlang, hin und wieder zurück. In Capital Cuba verschränkt Lurf diese Aufnahmen entgegengesetzter Fahrtrichtung zu einem rhythmisierten Bildkontinuum. In gleichförmig-moderatem Rhythmus, der sich aus der Aneinanderreihung von Filmsequenzen mit stets gleicher Dauer ergibt, wird der Betrachter über zwölf Minuten mit einem langsamen vertikalen Kameraschwenk konfrontiert. In der ersten Einstellung sieht man, die Kamera ist noch gänzlich nach unten gerichtet, das Hafenwasser vor Abfahrt der Fähre. Diese Sequenz wird alsbald von einer gleichartigen Aufnahme, die auf der Rückfahrt gemacht wurde, konterkariert. Die  beiden Aufnahmen des Hafenwassers unterscheiden sich dabei subtil in Farbe, Strömungsgeschwindigkeit und -richtung, aber auch in ihrem Geräusch, ihrem Klang. Zur Filmmitte hin entwickelt der Film eine äußerst dichte bildsemantische Struktur. Die Kamera ist nun, nach einem sukzessiven Schwenk nach oben, auf den Horizont ausgerichtet. Jetzt kann man Gebäude und Gerätschaften der Hafenanlage erkennen, der Blick changiert dabei zwischen Aufnahmen der Hin- und Rückfahrten, aber auch zwischen nah und fern, Erkennbarem und Abstraktem. Während anfangs weitestgehend noch die abstrakt-poetische, sanft-rhythmisierte Anmutung des Wassers bestimmend war, beginnt der Film zur Mitte hin den filmischen Schnitt, den Jump Cut, selbst zu exponieren. Man sieht verschiedene Landschafts- und Streckenverläufe zu einer Topologie jenseits des Dokumentarischen und Realen verschmelzen, wobei sich ein geradezu erzwunger diegetischer Raum herausbildet, der dem Betrachter unablässig eine „Bildleistung“ abverlangt, eine Suture, ein „Vernähen“ der Kader und Kadersequenzen.

Wie ★ und frühere Filme von Lurf scheint Capital Cuba einer Art filmisch-perzeptiven Grenzerfahrung nach zu gehen, die sich wesentlich den raumzeitlichen und -diegetischen Möglichkeiten des radikalen Filmschnitts verdankt. Dieser filmisch-abstrakten Entgrenzung und referenziellen Dekonstruktion steht in Capital Cuba ein reales örtliches Szenario gegenüber, das auf gewisse Weise selbst von Entgrenzung, Unbestimmtheit und Vagheit handelt und von Dekonstruktion im Sinne von Ver- und Zerfall gekennzeichnet ist. Im Hafen von Kuba trifft nicht nur Wasser auf Land, Kultur (Hafen/Industrie) auf Natur (Meer), sondern auch das erodierte sozialistische Regime auf neoliberale Kräfte, mit all ihren soziopolitischen Auswirkungen auf Hafenanlage, Stadtraum und Gesellschaft.

Capital Cuba bietet dem Betrachter zwei mögliche Modalitäten der Wahrnehmung, ja zwei Lesarten, die ein ständiges Wechselspiel bilden, eine semidokumentarische sowie eine abstrakte, materialästhetische Lesart. Dokumentarisch betrachtet berichtet der Film von der Hafenlandschaft, vom ruinösen Zustand des Hafens in der Bucht von Havanna. Er erzählt vom Niedergang dieser einst bedeutsamen Gegend, ja des gesamten Wirtschaftszweiges, aber auch vom Ausverkauf der Hafenanlagen an ausländische Investoren. Die desolaten Hafengebäude und die Kräne, die in der Mitte des Filmes zu sehen sind, als die Kamera langsam auf den Horizont ausgerichtet wird, werden zur Metapher für Fortschrittsfuror und Machbarkeitsdenken, sie bilden geradezu Sinnbilder für das Scheitern des Regimes. Der auf einem der verfallenen Hafengebäude angebrachte ramponierte Schriftzug „Machina“ erscheint wie ein Mahnmal der gescheiterten Wirtschaftspolitik, die den Menschen nichts anderes übrig lässt, als auf bessere Zeiten zu hoffen, wobei die bisherigen ausländischen Investitionen mitnichten zu einer Verbesserung der wirtschaftlichen Lage geführt haben.

Johann Lurf porträtiert diese Tristesse und latente Hoffnungslosigkeit jedoch nicht mittels schlichter Abbildung. In der zweiten, sozusagen abstrakteren Lesart rückt Lurfs struktureller Umgang mit grundlegenden Eigenschaften und Konstituenten des Filmbildes in den Vordergrund, insbesondere mit seiner Zeitlichkeit, seiner Dauer. Diese abstrakt-strukturalistische Ebene löst und koppelt sich jedoch niemals gänzlich vom Gezeigten, vom Porträtierten ab. Grundlegende filmische Parameter wie Zeit, Wiederholung, Rhythmik (hier im Wesentlichen der Motorgeräusche) werden zu filmisch-abstrakten, dabei aber durchaus affizierenden Agenzien, die signifikant in das semidokumentarische Geschehen hineinspielen und es mitsemantisieren. Lurf gelingt es durch die strukturelle Verschränkung der Hin- und Rückfahrten, ein ästhetisches Geschehen zu evozieren, das mit seiner maschinenhaft rhythmischen Anmutung unaufdringlich ein perzeptives Analogon zum Zustand der Wiederholung des immer Gleichen, zum – mangels Wahlmöglichkeiten – unfreiwillig Ritualisierten bildet.

Capital Cuba vermeidet explizite Fragen, der Film enthält keinerlei politischen Kommentar und gibt auch keine Antworten, sondern schafft zwischen ästhetischer und dokumentarischer Wirkungsweise eine Art transitorischen Raum, der den Betrachter sowohl perzeptiv als auch inhaltlich vor permanente Herausforderungen stellt. Der Verlust eines auszumachenden Wahrnehmungszentrums und die Verunmöglichung eines eindeutigen Standpunktes lassen sich schließlich als grundlegende und immer wiederkehrende ästhetische Ereignisse im Werk von Johann Lurf erkennen. Sie fungieren als Instrumente, den Film von Wertendem, gar Didaktischem fernzuhalten. Capital Cuba gelingt es, jene Ambivalenz zwischen Hoffnung und Ausweglosigkeit in ein Moment filmischen Nachdenkens zu überführen, in ein Zögern des Blicks, das dem Denken und Erkennen einen Zustand aktiven Sehens und Wahrnehmens gegenüber, aber auch zur Seite stellt.

David Komary