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Dez 08 – Feb 09

Text | engl. | Abbildungen


KünstlerInnen: Gerold Tagwerker (A), Amy Yoes (USA)

Da wir bisher den Raum vom Boden her, also geometrisch, erlebt und verstanden haben, war das Merkmal alles Räumlichen die Definition, die Grenze. Und jetzt, da wir den Raum von innen her, also topologisch, zu erleben und zu verstehen beginnen, wird das Merkmal alles Räumlichen das Überschneiden, das Überdecken, das Ineinandergreifen werden. Vilém Flusser

Der Ausstellungsraum von impermanent geometry ist – so möchte man auf den ersten Blick meinen – in zwei Zonen unterteilt. Zwei Zonen in Analogie zu den zwei künstlerischen Positionen von Gerold Tagwerker und Amy Yoes, die weder räumlich miteinander verbunden noch ästhetisch miteinander synchronisiert sind. Das verbindende Element ist ein geradezu immaterielles: Sowohl bei Tagwerker als auch bei Yoes fungiert Licht als wesentliches raumkonstitutives Medium, einmal durch die Evokation eines unbestimmten, diffus atmosphärischen Lichtraums, das andre Mal als Trägermedium einer Projektion, die die arretierten Einzelbilder einer Stop-Motion-Animation zu einem Bildraumkontinuum synthetisiert. In beiden Fällen evoziert das Licht – hierin liegt der gemeinsame Nenner – eine geradezu transitorische Bildräumlichkeit, in der nicht die orthogonale Ordnung und die räumliche Bestimmbarkeit von Interesse sind, sondern die Indeterminiertheit raumzeitlicher Zusammenhänge und Abläufe sowie die Kontingenz der Raumerfahrung in der ästhetischen Anschauung.

Sowohl Tagwerker als auch Yoes gehen in ihren Arbeiten mit der Konstruktion gegen die Konstruktion vor. Sie inszenieren visuelle Systeme und untersuchen das jeweilige Möglichkeitsfeld von Rekursivität und Selbstreferenz innerhalb dieser autopoietisch erscheinenden ästhetischen Kreisläufe. Die KünstlerInnen stellen dabei die schematisiert geometrisierte Raumvorstellung zur Diskussion. Der Konvention des triaxialen, euklidischen Behälterraums wird, einmal phänomenologisch (Tagwerker), einmal semiologisch (Yoes), eine dynamisierte, relationale Raumvorstellung gegenübergestellt. Die KünstlerInnen generieren auf vager Geometrie fundierte Bildräumlichkeiten, sie inszenieren unbeständige Geometrien, die den Betrachter mit einer Situation der Unbestimmtheit und der Kontingenz konfrontieren.

Gerold Tagwerker sucht, das kollektive Unbewusste urbanistischer Grundformen transparent zu machen. Fokussiert werden einerseits die utopischen Aufladungen dieser Formen, andererseits ihre Auswirkungen auf die Wahrnehmung. In der Lichtarbeit blur.grid verbindet Tagwerker objekthafte Konkretheit mit ästhetisch-prozessualer Offenheit und Unbestimmtheit: Tagwerker „inszeniert“ eine bewegliche Wand, einen Raumteiler, zusammengesetzt aus sechs quadratischen Neonlichtmodulen. Die Anordnung der rasterartig verspiegelten Module verdichtet sich zur Lichtwand, avanciert zum Bild, zur Raster-Licht-Malerei. Der Raster evoziert in dieser pikturalen Lesart die Vorstellung eines Velums, des Fadengitters, das zur Strukturierung, Vermessung und Konstruktion des zentralperspektivisch organisierten Bildraums diente. Der Raster versprach Orientierung, garantierte die Vermessbarkeit des „dahinterliegenden“ Raums und verwies zugleich stets auf einen souveränen Beobachterstandpunkt. In seiner Durchsichtigkeit wurde der Raster zudem Ikone und wesentliches Leitmotiv der Moderne, verbunden mit der Forderung nach der Auflösung der Grenzen, der Verschmelzung von Innen und Außen und dem Ideal der absoluten Transparenz.

Doch der ästhetische Status des Rasters im Kontext dieser Lichtinstallation ist ambivalent: Die durch den Raster vermittelte geometrische Klarheit wird von einer Inkonstanz, dem Schwanken der Lichtintensität der Neonröhren, konterkariert. Das Licht, sukzessive an- und absteigend, überblendet den Raster, es drängt sich vor, löst ihn auf, um dann wieder hinter ihm zurückzutreten. Eine Ästhetik der Periodizität und des Schwindens bestimmt die Arbeit. Die präzise Form des Rasters wird im Crescendo des Lichts unscharf, er wird zum blurred grid. Das Licht selbst wird dabei in seiner Medialität, eigentlich seiner Immaterialität, „sichtbar“. Nicht mehr die Fläche ist der ästhetische Handlungsraum, sondern der gesamte umgebende Raum, der, vom Licht „affiziert“, zwischen Nah- und Fernraum oszilliert.

Dem anfänglich anklingenden funktionalistischen Optimismus der Lichtskulptur tritt eine phänomenologische Komponente gegenüber. Bei Tagwerker kreuzen sich zwei komplementäre Bildräumlichkeiten, atmosphärisch/phänomenologische und geometrisch/abstrakte Räumlichkeit. Die Arbeit adressiert anfänglich das Auge, wendet sich dann jedoch dem gesamten kinästhetischen Komplex, dem Körper, zu. Der Betrachter wird Teil eines Lichtraums, eines von Lichtvektoren und -lagen konstituierten transitorischen Bereichs, er durchschreitet ihn, schreibt sich ihm ein, indem der die Lichtprojektion schneidet. Tagwerker gelingt es, Wahrnehmung kontingent zu setzen. Der Betrachter findet sich wieder in einem Kontinuum möglicher Anschauungen, einem Kontinuum der phänomenologischen Zeit als ein „Ineinander von Retention und Protention“ (Husserl).

Die Fokussierung auf die Temporalisierung der Wahrnehmung sowie die Relativierung triaxialer Raumstrukturen bilden wesentliche Gemeinsamkeiten mit der Arbeit von Amy Yoes. Ein „rear-view mirror“, ein Rückspiegel, erlaubt einen Blick zurück bei gleichzeitiger Vorwärtsbewegung. Im gleichnamigen Video von Amy Yoes, einer Stop-Motion-Animation, wird eine ähnliche Doppelbewegung auf bildsemantischer wie auf temporalontologischer Ebene evoziert. Yoes scheint historische Bilder, etwa von Schwitters Merzbau, zu dynamisieren, sie lässt Archivbilder zum Leben erwachen. Die Bilder beziehen sich zwar entfernt auf bekannte fotografische Vorlagen, überlassen den Betrachter aber dennoch einer gewissen Unbestimmtheit. Die Animation erscheint als vage Erinnerung, vielleicht bereits eine Erinnerung an die Erinnerung, gänzlich in Schwarzweiß gehalten, einer alten Fotografie nicht unähnlich; eine Unbestimmtheit, die etwas Unheimliches in sich birgt. Die Lichtprojektion schafft Gegenstände und Abläufe von geisterhafter, obskurer Präsenz, die mit jedem Augenblick, mit jedem Bild, zu vergehen drohen.

In einem bühnenhaften Arrangement, das in einer einzigen „Einstellung“ vorgeführt wird, inszeniert Yoes die sukzessive Dynamisierung und Verdichtung teils dreidimensional-abstrakter, teils flächig-ornamentaler Formen. Linien, Kurven sowie amorphe Formen, gefertigt aus Papier, Draht, Plastilin, treten neben- und nacheinander auf und führen ihre Fähigkeit zur ästhetischen Affizierung vor. Die formalen Elemente bzw. Akteure fungieren hierbei als ästhetische Entitäten ohne klar bestimmbare Referenzen und Zwecke, sie sind Einzelbestandteile, deren ästhetischer Gehalt erst in der Konstellation und im Zusammenspiel mit anderen Elementen evident wird. Wenn Ursache und Wirkung in diesen gerichtet-ungerichteten Abläufen auch unklar bleiben, so ist der fortwährende Anschluss als Prinzip erkennbar. Die Formen bilden Gruppen, Subszenen, treten dann in Interferenz mit anderen Formgruppen, verdichten sich, lösen sich wieder auf oder treten ab. Die visuellen Ereignisse scheinen einer inneren, geradezu kompositorischen, wenngleich maschinellen Logik zu gehorchen und erzeugen ihren eigenen imaginären Raum der Heterogenität und Simultanität.

Yoes rekurriert wie auch Tagwerker auf Bildregien der frühen Moderne, insbesondere jedoch auf deren experimentelle Variabilität. In ihren Animationen stehen abstakte, flächige und (teils) figurative Elemente in keinem Gegensatz zueinander, einzig die Performanz und die Kontingenz der ästhetischen Ereignisketten sind von Interesse. Versuchten die Surrealisten, dem Rationalismus einer technologisch und funktionalistisch bestimmten Moderne die Dimension des Unbewussten entgegenzusetzen, so finden sich in Yoes Akteuren, die sich im Übergangsfeld von Abstraktem und Amorphem, Traumhaftem und Realem, Physischem und Psychischem bewegen, während sie einer écriture automatique zu folgen scheinen, beide Momente miteinander verbunden.

Yoes und Tagwerker entwerfen eine Räumlichkeit, der stets eine zeitliche Dimension inhärent ist. Solcher Raum ist nicht schlichtweg vorhanden, er ist kein metaphysisch Reales, das in ein Koordinatensystem übersetzt werden kann – sein ontologischer Status, sein Sein, ist vielmehr vom Werden nicht zu trennen: impermanent geometry. Durch die Auflösung konventioneller Raumvorstellung, des triaxialen Koordinatensystems als Bezugsrahmen räumlicher Vor- und Darstellung, ist der Betrachter sowohl bei Yoes als auch bei Tagwerker letztlich aufgefordert, den eigenen „Standpunkt“ – ob innerbildlich-imaginär bei Yoes oder phänomenologisch-real bei Tagwerker – zu überprüfen und der Bildlektüre (semiologisch) sowie der eigenen Erfahrung (phänomenologisch) gegenüberzustellen.           

 

David Komary