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Juli – September 2021

Text | engl. | Abbildungen



Künstler: Paolo Icaro

Die Ausstellung IDEM EST zeigt eine Konstellation skulpturaler Werke des italienischen Künstlers Paolo Icaro (*1936) aus den Jahren 1969 bis 2020. Icaro arbeitet stets mit einfachen Materialien und Formen aus Holz, Metall, Gips oder Stein. Das Medium der Zeichnung bildet ein Grundmedium, eine basale Artikulation, aus der sich wesentliche Fragestellungen Icaros herauslesen lassen. Der Punkt als kleinste zeichnerische Form und Setzung sowie die Linie finden sich bei Icaro somit sowohl als ikonische als auch als skulpturale Grundelemente wieder.

Icaros Werke sind, obwohl sie oftmals auf einfache geometrische Formen wie Linien, Rechtecke, Kuben, rekurrieren und auch das Fehlen von Material, also Leere und Absenz, als räumliches Agens bedienen, das Gegenteil von steril, distanziert oder streng. Der Künstler arbeitet, vielleicht ist das die signifikanteste Verbindung zur Arte Povera, der er anfänglich zugeordnet wurde, mit einfachen, teilweise fragilen Materialien, die durchaus Spuren der Zeit abbilden, mit Papier, oder aber mit Eisen, das rostet, das auch rosten darf. Seine Skulpturen lassen sich jedoch nicht auf ihre Formensprache, Materialität oder phänomenologische Präsenz reduzieren. Auch wenn sein Werk Charakteristika der Arte Povera erkennen lässt und obschon es oftmals unter den Vorzeichen der Konzeptkunst und des Postminimalismus gelesen wird, so wären diese Zuschreibungen doch ungenügend und reduktionistisch. Man könnte vielmehr von einer eigenständigen poetisch-skulpturalen Sprache sprechen, die räumlich-relationale Fragen stellt, um – über das Medium der Wahrnehmung – die Beziehung vom Ich zur Welt zu überprüfen und zu reflektieren.

Icaros Arbeiten lassen sich als skulpturale Szenen beschreiben, sie sind auf den Punkt gebrauchte, in einfacher poetischer Raumsprache artikulierte Fragen nach dem Hier (Ich) und Dort (Wirklichkeit und Welt), dem Sein (Raum) aber auch dem Werden (Zeit). Die Dichotomie von Hier und Dort bildet eine Art räumliches, in gleichem Maße aber auch ontologisches Grundmotiv bei Icaro. Wie kann ich, so der Künstler, vom Standpunkt meines individuellen Hier und Jetzt diese äußere Welt „erreichen“, wie Beziehung zu ihr aufbauen. Icaro adressiert den Betrachter stets als Gesamtes, als Individuum in seiner persönlichen Lebenswirklichkeit und Erfahrung, seiner Geschichte, seinen Eigenheiten aber auch seinem Unvermögen. Er schafft keine exklusiven Räume oder Szenerien, sondern inklusive Settings, die Wahrnehmung, Kognition, Wissen interdependent verstehen und dabei dezidiert auch Subjektives, Persönliches, ja die Seinswirklichkeit und Geschichte jedes Einzelnen miteinzubinden versuchen.

Die postminimalistisch anmutende Skulptur Cuborto (1969) wird aus einfachen, aus heutiger Sicht durchaus in die Jahre gekommenen Stahlstreben gebildet, wobei sich die kubische Ordnung dem Betrachter latent gebrochen, verschoben und etwas aus dem Lot präsentiert. Während drei Streben in Form einer XYZ-Gefüges jeweils verschweißt sind, sind die Raumkreuze miteinander bloß durch kurze Schnurstücke verbunden. Der Kubus ist auf den ersten Blick zwar eindeutig als solcher erkennbar, bei genauerer Betrachtung erscheint er aber durchaus instabil, ja verletzlich. Er ist hier nicht geometrische Rein- oder Idealform, sondern wird beinahe zu einer Art Protagonist oder Charakter, bemüht, die eigene Form zu wahren. Keine Spur von euklidischer Orthogonalität und von Raum als abstrakte homogene Ausdehnung, eine Vorstellung, die für Gewöhnlich mit einer kubischen Idealform einhergeht. Es scheint, als würde hier das Leben, ja das Menschliche, in die Dingwelt einbrechen. Und dennoch geht es nicht um Ironie oder um die bloße Dekonstruktion einer zur Autorität und zum Formfetisch erodierten geometrischen Grundform. Auch hier, in der Beziehung zum (gebrochenen) Objekt, ist die sich herausbildende Beziehung von Betrachter zum Wahrnehmungsgegenstand der eigentliche Gegenstand künstlerischer Reflexion. In der Auseinandersetzung mit Cuborto sind nicht bloß kognitive oder mentale Prozesse des Verstehens relevant, sondern durchaus psychologische, relationale Momente der Übertragung und Gegenübertragung, also projektive Abläufe des Sehens und Hineinlesens als Formen perzeptiver Resonanz des wahrnehmenden Selbst.

Manche Skulpturen Icaros haben das Ausdrucksvermögen eines räumlichen Protagonisten, sie laden den Betrachter ein, in das Wirkungsfeld der Skulptur einzutreten, um dessen relationalen Raum eben dadurch erst mithervorzubringen. Abgesehen von dieser performativ-szenischen Qualität kommt in seinen Arbeiten jedoch auch ein sprachlicher, manchmal sogar lyrischer Aspekt hinzu, nicht in einem linguistischen, referenziellen oder gar kommentierenden Sinn, sondern in Form eines offenen und doch intensiven dialogischen Moments. Icaros Skulpturen sprechen aus sich heraus, sie artikulieren sich – um einen Begriff aus der Musikästhetik, der Vortragskunst zu entwenden – parlando. Sie wirken vorerst ungezwungen, werden im Wahrnehmungsverlauf dann auf subtile Weise aber doch kommunikativ verbindlich. Vielleicht könnte man von einem relational-poetischen Skulpturbegriff sprechen, vom Versuch, die zentrale Frage Icaros nach der Beziehung vom Ich zur Welt mittels des „Instrumentes“ seiner individuellen skulpturalen Grammatik auf verschiedene Weise lesbar zu machen und im Hier und Jetzt zu artikulieren.

Auch in Inside out (2016) wird der Betrachter auf subtile Weise vom Künstler choreografiert. Die kniehohe Skulptur lässt den Rezipienten herantreten, dabei sieht man auf die Skulptur herab, als könnte man sie verdinglichen, ihrer habhaft werden. Und doch, bei näherer Betrachtung offenbart Icaros kleiner Protagonist Fragen raumphilosophischer Tragweite. Icaro bedient sich auch hier einer radikalen Form von Einfachheit. Der Titel Inside out verrät bereits, was die Skulptur „tut“. Der Künstler hat das Innere eines im Querschnitt in vier Teile geteilten Baumstammstückes schlicht nach Außen gewendet und abschließend mit einem Bleiband neu zusammengebunden. Materiell betrachtet ein einfacher, fast banaler Schritt. Doch denkt man sich in die Topologie der Skulptur hinein, so birgt dieser einfache invertierende Eingriff große blicktheoretische und relationale Herausforderungen und Fragen. Etwas, das nie für die Sichtbarkeit bestimmt war, erblickt, um es pathetisch auszudrücken, das Licht der Welt. Gerade in seiner kleinen Präsenz gelingt es dem verschnürten Holzscheit, mit dem Betrachter in Verbindung zu treten, ihn zu affizieren. Die Intimität der „Unterhaltung“ mit dem kleinen Performer bindet nicht nur den Betrachterblick, also das Auge, sondern auch psychische Energie, es weckt sozusagen Empathie. Wie bereits in Cuborto erhält das Material auch hier charakterhafte Züge. In psychologischer Übertragung der Szenerie auf den Betrachter vermag sich dieser vielleicht eingeladen oder aufgefordert fühlen, über eigene innere, verborgene Anteile nachzudenken, die bei einem derartigen „Umstülpen“ ans Licht treten würden.

Es wäre in jedem Fall zu kurz gegriffen, Icaro als Dekonstruktivist zu verstehen, es geht ihm nicht ums Zerlegen, ums alleinige Brechen gewohnter Wahrnehmungsschemata, von Ordnungen oder Dispositiven, etwa der Orthogonalität des Kubus. Icaros Werke fragen stets nach der Beziehung, der Verbindung des Betrachters zum hier sogenannt Dekonstruierten. Der Künstler versteht den Raum zwischen Betrachter und Werk keineswegs als leer, gar neutral, sondern gefüllt mit Alltag, mit Persönlichem. So betrachtet handeln seine Skulpturen und räumliche Szenen auch nicht von Abstraktion, sie suchen stattdessen, die explorativen relationalen Kräfte des Wahrnehmenden im Herstellen der Beziehung zum Objekt zu wecken und zu aktivieren. Diese Beziehung zum Betrachteten ist bei Icaro dynamisch, das Kunstwerk vermag auf diese Weise ein Mehr an Beziehung zum (eigenen) Leben zu bedingen und nicht von ihm, ins Abstrakte oder Ideale, wegzuführen.

In der Serie Racconto (1968 bis heute) entwickelte Icaro ein selbstreferentielles, abstraktes und dennoch „erzählerisches“ System, das auf einer geometrisch-kubischen Ordnung basiert. Die Grundform der fortlaufenden Serie Racconto bildete ein kleiner Stahlkubus, den Icaro 1968 während seiner Zeit in Genua bei einem Metallschmied fand. Icaro glättete die Seitenwände des Stahlkubus, sodass dieser ein eigenwilliges Maß von 10,5 x 10, 5 x 16,5 erhielt. Dieser Stahlkubus mit seinen sonderlichen Maßen bildet seither eine Art Grundbaustein und die metrische Referenz der Racconto-Serie. Zugleich, metaphorisch betrachtet, erscheint er als Textbaustein oder auch als narrativer Behälter.

Icaro platzierte bei seinem ersten Raconto (1968) den Kubus auf einem Papierboden, einem „obscuring paper“ (Abdunkelungspapier), das er, wie schon zuvor den Stahlkubus, günstig in die Hände bekam und ihn ob seiner Metaphorik in seine „Erzählstruktur“ integrierte. Er faltete das Papier in 64 Felder, auf denen der Ur-Racconto je nach individueller Entscheidung kalenderähnlich verschiedene Positionen einzunehmen vermag. Icaro betont, dass die Serie der Racconto eine Arbeit über Zeit, über Dauer, über Anfang und Ende ist. Die 64 Felder bedeuten das obere Limit der Anzahl der Racconti, die Icaro während seines Lebens schaffen möchte, wodurch die Serie zu einer Analogie für Leben und Lebenszeit per se wird. Der in IDEM EST gezeigte Racconto zeigt hingegen ein recht kleineres Zeitfenster eines „Kalenders“ aus 4 Feldern. Der Kubus ist bei diesem Racconto aus dem Jahr 2018 nicht aus Stahl, sondern aus rotem Muranoglas gefertigt und lässt in seiner transluziden Erscheinung ein wenig an ein Bonbon, auf jeden Fall an etwas Angenehmes, einen Moment des Genusses, an einen schönen Lebensmoment denken. Trotz der selbstreferenziellen Rhetorik und elliptischen Logik wird die Racconto-Serie als ein in Raumpoesie transkribierter Kalender lesbar, der über das eigene Leben, das Sein, letztlich aber auch über Beginn und Ende, also über Leben (Geburt) und Tod, nachdenken lässt.

Die Bodenskulptur Linea di equilibrio (2011) widmet sich ganz der aleatorischen Performanz einer einfachen verräumlichten Linie. Schon beim Eintreten in den pavillonartigen Eingangsbereich wird der Besucher von der Bodenskulptur abgefangen und in den Hauptraum gelenkt. Ein 10 cm breites, 20 m langes Band aus gehärtetem Stahl durchquert schlängelnd den gesamten Ausstellungsraum. Kleine, aus einer kubischen Granitleiste geschlagene Blöcke stützen das Stahlband links und rechts ab und lenken es kurvenartig diagonal durch den Raum. Jede Positionierung eines Steines scheint hebelartig eine Gegenbewegung auf der anderen Seite des Stahlbandes zu bedingen. Die Wirkung subtiler Zug- und Druckkräfte, die hier auf einem diskreten Prinzip des Spannungsausgleichs zu beruhen scheinen, verleiht der räumlichen Linie eine ganz auf den gegebenen Raum antwortende individuelle Form und Dynamik, stets mit dem Hinweis, dass sie latent anders aussehen, anders performen könnte. Linea di equilibrio ist jedoch nicht bloß räumlicher Resonator, auch sie birgt die bei Icaro so wesentliche durchgängige Frage nach dem Hier und Dort, die hier, ins Zeitliche übersetzt, in der Frage nach dem Anfang und Ende mündet. Icaro versucht hier exemplarisch eine Linie im Raum erfahrbar zu machen, nicht nur als eine sich relational zum Raum ereignende Bewegung, sondern auch dezidiert als potentielles Kontinuum, dessen inhärent zeitliche Dimension metaphysisch gedacht vielleicht sogar auf die Idee von Unendlichkeit verweist. Die Länge der Linea di equilibrio wird hier zur Strecke, an der sich der Betrachter entlang bewegt, sie bildet, ähnlich wie in Mappa (2010), ein Analogon für das Gehen, das Reisen, das Erkunden, aber auch generell für das Weiterkommen. Räumliches wird schließlich sowohl in Linea di equilibrio als auch in Mappa als Wahrnehmungsfolge erkennbar, als Kontinuum anstelle einer in sich ruhenden objektgebundenen Ordnung. Diese zeitliche Dimension, die auch stets eine Mannigfaltigkeit von Erscheinungen, von Abweichungen, Iterationen mitdenkt, ist ein wesentliches Merkmal der skulpturalen Sprache Icaros. So erscheint nicht so sehr Raum das vorwiegende skulpturale Medium, sondern Räumliches in stets zeitlichem Zusammenhang, in seinem Sein und Werden.

Das Bildobjekt Mappa konfrontiert den Betrachter mit einem doppelten Umschlagphänomen. Icaro faltet hierfür einen Bogen Papier zu einem Knäuel, um es beim anschließenden Auffalten zu einer Art Gebirgslandschaft unbestimmten Ortes werden zu lassen. Einerseits changiert Mappa somit zwischen Piktoralem und Objekthaftem, andererseits wird eine an sich begrenzte Form zum Ausschnitt einer potentiell endlosen, expansiven imaginären Landschaft erhabenen Ausmaßes. Auf den verhältnismäßig schnellen Akt der „Schöpfung“ der Landschaft folgt eine extrem verlangsamte Form des „Reisens“ durch das Relief. Icaro bewegt sich, genauer gesagt den Stift, beinahe in Zeitlupe, zumeist entlang von Gipfelkanten, manchmal aber auch durch Täler hindurch. Die verlangsamte Linienführung – für die gezeigte Mappa benötigt der Künstler einen Monat Zeichenzeit – wird zum Analogon für den Akt des Gehens, Erkundens, Reisens. Icaro beschreibt das verlangsamte Zeichnen durchaus als herausfordernd. An jenen Stellen, an denen er zwecks Erholung im Bildrelief verweilt, platziert er Kerne von Passionsfrüchten, die er während des Zeichnens isst. Der Kern markiert vordergründig betrachtet einen Ort, den Ort der Pause, während das „Metrum“, das sich aus den Abständen zwischen den Kernen formiert, wiederum Zeit, Dauer und Verlauf der zeichnerischen Reise widerspiegelt.

Mappa handelt, wie auch Icaros Shootings (2020), von einer Reise, vom Sich-Bewegen aber auch metaphorisch und allgemeiner vom Voran- und Weiterkommen im Leben. Die Linie markiert einen möglichen Pfad, einen Trip von Hier nach Dort. Icaro bewegt sich in Mappa explizit langsam, er will den Weg nicht erledigen, sondern ihn erkunden. „I try to challenge relationship, opening variety, provocations“. Er bezeichnet dieses verlangsamte, explorative Reisen als Instrument, um die eigene Beziehung von sich zur Außenwelt auf die Probe zu stellen, zu reflektieren und zu erweitern. Jeder dieser Trips, dieser Momente des In-Beziehung-Tretens wird dabei aber auch von substantiellem Zweifel begleitet, „The art work mediates the lonelyness of the individuum with the multitude of the world“, denn nie kann man sicher sein, was man wirklich sieht, ob die Verbindung des Ich zur Welt glückt oder scheitert.
 
Im Gegensatz zu Mappa bewegt sich Icaro in den Shootings möglichst schnell, die Überwindung der Strecke von Hier nach Dort soll so rasch wie möglich von statten gehen. Mittels einer Kleinkaliberwaffe, die ein Freund unter Icaros „Regie“ auslöst, vermag der Künstler die für ihn direkteste und schnellst ausführbare Verbindung zum „Bildträger“, der sich hier als vertikal aufgestellte Papierrolle zu erkennen gibt, herzustellen. Die Shootings könnten als eine Art epistemologischer Urszene maximaler Übertreibung gelesen werden, als Versuch, von der eigenen Position aus, dem Ich und Hier, das Dort, also das Objekt, den Raum, letztlich die Welt, perzeptiv wie auch mental zu erfassen. „I connect myself from here to there, like flying in space, on an imaginary bullet“, so Icaro. Zwar schnell, so garantiert auch dieser Versuch des „Beziehungsaufbaus“ zur Welt keineswegs das Gelingen des Unterfangens. So wird auch das Nicht-Treffen oder das bloße Streifen der Papierrolle zur möglichen Metapher für Nichtgelingen, für Scheitern, aber auch für den Impuls, weitere Versuche zu wagen.

In Morse (2018) lässt sich ein Wechselspiel objekthafter An- und Abwesenheit entlang einer Art linearer Metrik beobachten und „dekodieren“. Auf einem horizontal gehängten kubischen Gipsbalken liegen in loser, semirhythmischer Reihung würfel- und kubenartige Bruchstücke gleichen Materials und Querschnitts. Manche der Steine weisen glatte, exakte Schnittkanten auf, andere sind von Hand gebrochen und „stören“ die Ordnung und Rhythmik. Auf den ersten Blick seriell und regelmäßig anmutend, zeigen die einzelnen Steine bei genauerer Betrachtung ein lebendiges Nebeneinander in Form dialogischer Korrespondenz aber auch Abstoßungsmomente und Spannungsverhältnisse. Icaro lässt die Zwischenräume der kubischen Protagonisten zudem selbst zu inversen Volumina werden, die dem Betrachter Interpretation und Bedeutung abringen. Das Ähnliche erweist sich schließlich als äußerst unterschiedlich, ja individuell und ausdrucksstark. Das Herausschneiden und -brechen der einzelnen Bausteine verweist zudem deutlich auf den Akt ihrer Herstellung, auf die Energie und das Ereignis des Brechens des Granits. Die syntaxähnliche Ordnung, die sich in Anspielung an das binäre Morsealphabet herauslesen lässt, verläuft bei genauerer Betrachtung in Dysfunktionalität, in geordneter Unordnung. Das System sieht seiner eigenen Fehlerhaftigkeit und seinem Unvermögen in den Spiegel. Im Versuch, eine inhärente Logik herauszudestillieren, wird der Betrachter schließlich, vielleicht in Art einer kritischen Grammatik, ganz auf die eigene Lesart und Interpretation verwiesen. Hierin lässt sich, dann allerdings unter den Vorzeichen einer kritischen Geometrie (critical geometry), eine deutliche Analogie zu Cuborto erkennen. Auch dieses Werk zielt auf die Infragestellung einer verbindlichen Ordnung, der trixialen Raumordnung. Der Künstler bedient sich der kubischen Logik „including the disregard“, so Icaro, also um ebendiese Ordnung zu missachten, zu unterwandern und hintergehen.

Der Titel der Ausstellung IDEM EST, zu Deutsch „derselbe“, „ebenderselbe“, könnte den Betrachter dazu verleiten anzunehmen, es ginge um Gleiches, Ähnliches, Selbstähnliches oder gar Identisches. Doch schon im Schaffen von Gleichem, gleich Erscheinendem, ereignet sich unablässig, wenn auch nur liminal,  Abweichung und Differenz. Die unterschiedlichen Arbeiten Icaros sind so betrachtet verschiedenste, in sich pointierte Versuche, sich das Außen, die Welt, zu erklären, ohne in ein verbindliches Schema, in eine Weise der Welterzeugung zu münden. Paolo Icaro versteht seine ästhetische Praxis nicht als rein kunstimmanentes Handeln und Fragen, sondern es geht ihm viel grundlegender um die Beziehung von sich zur Welt. „To me“ so Icaro, „it is important to connect with this tragic epoche we live in“. Icaros Werke sind keine Erklärungen oder Denkmodelle und so gesehen auch keinesfalls rein konzeptuell zu verstehen, sie sind Vorschläge und Aufforderungen, mit dem Raum, der Welt, individuell in Verbindung und Beziehung zu treten. Sein Werk lässt sich somit sowohl als Vielfalt und Mannigfaltigkeit skulpturaler Artikulation, als auch als „Kanon“, als eine sich wiederholende Grundfrage verstehen, die auf verschiedene Weise, eigentlich über die Dauer der gesamten Lebens, modulierend und variierend gestellt und „durchgeführt“ wird.

„Disregards should not be disregarded“, so Icaro, der damit den Aspekt notwendiger Infragestellung von vertrauten Wahrnehmungsschemata betont, von Konventionen des Blicks aber auch des Denkens. Zugleich ist es schlicht unmöglich, eine Art absoluter Wahrnehmung oder ein Wissen jenseits von Wahrnehmung und Denken mitbestimmenden Dispositiven zu erlangen, was sich schließlich auch ontologisch in der Unmöglichkeit widerspiegelt, das eigene Sein gänzlich verstehen und transzendieren zu können. „We cannot explore the beginning and ending“, so Icaro, weil es weit über den vertrauten Rahmen von Wahrnehmung und Denken hinausführt. Dieses erkenntnistheoretische Unvermögen mündet bei Icaro jedoch keineswegs in Nihilismus oder postmodernem Sarkasmus, sondern, ganz im Gegenteil, in einer skulpturalen Philosophie der Kontinuität. Trotz aller blicktheoretischen, metapiktoralen und letztlich ontologischen Überlegungen und Zweifel verliert Icaros Arbeit dabei nie das Einfache, Unmittelbare und Basale aus dem Blick. Stets gelingt es seinen Skulpturen, sich zugleich auf nichtsprachliche und vorsprachliche Weise zu vermitteln, man könnte durchaus behaupten, dass es seine Arbeiten nie verlernt haben, dem inneren Kind, der Unmittelbarkeit explorativer Erfahrung und dem sinnlichen Erkennen Raum zu geben.

 

David Komary