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Oktober – November 11

Text | Abbildungen



Künstler: Nikolaus Gansterer, Brigitte Mahlknecht

Berge sind Teil der Wirklichkeit, aber sie sind vage. Sie haben keine scharfen Begrenzungen: Es ist vage, wo der Berg endet und die Ebene beginnt. Es ist also leicht zu sehen, dass Vagheit ein Zug der Wirklichkeit ist und nicht bloß ein Merkmal unseres Denkens und Sprechens.   R. M. Sainsbury

Das Medium der Zeichnung bildet in convergence in probability die Gemeinsamkeit der Arbeiten von Brigitte Mahlknecht und Nikolaus Gansterer. Beide zeichnerischen Praktiken zielen weder auf mimetische Abbildung noch auf ausdrucksästhetische Artikulation. Der zeichnerische Prozess ist vielmehr wesentlich selbstbezüglich und von einem Moment der Autopoiesis bestimmt. Zeichnen erscheint als autogeneratives System. Das einzelne Bild ist keine geschlossene Bildentität, sondern Ausschnitt und Fragment eines Bildkontinuums. Die zeichnerische Faktur wird sowohl bei Gansterer als auch bei Mahlknecht als Spur einer Temporalisierung lesbar. In ihrer Anwesenheit verweist die Spur per se auf ein Gewesenes, ein Abwesendes. Im Versuch, das Moment des Schwindens sichtbar zu machen, wird die Spur zur „Essenz des Flüchtigen“(1). Der zeichnerische Prozess, zwischen Gerichtetheit und Nichtgerichtetheit, gleicht einer Suchbewegung.

Die KünstlerInnen arbeiten mit non-linearen, paradoxen zeichnerischen Systemen: Mahlknechts Arbeiten evozieren ein kartografisches Sehen, Gansterer inszeniert eine wissenschaftlich anmutende Sammlung „natürlicher“ Aufzeichnungen und Artefakte. Beide rekurrieren auf wissenschaftliche, „verobjektivierende“ Bildregien, dennoch erscheint die ikonische Korrespondenz zwischen Realität und Abbild stets vage und unbestimmt. Das jeweilige zeichnerische System bringt Formenkonstellation hervor, die an landschaftliche Referenzen (Mahlknecht) denken lassen oder „natürliche“ Erscheinungsformen oder Vorgänge (Gansterer) lesbar machen. Landschaft und Natürliches erscheinen in diesen Kartierungen und Aufzeichnungen jedoch a posteriori, im Interpretieren der zeichnerischen Spuren und Signaturen durch den Betrachter. Indem die KünstlerInnen das Verhältnis von Bild, kognitivem Apparat und medialer, genauer: wissenschaftlich codierter Bildregie thematisieren, verschiebt sich der Fokus von den „Gegenständen“ der Betrachtung auf das Beobachtungsdispositiv selbst: Welche Blickkonventionen sind dem Sehen eingelagert, welche Prämissen und Selektionsparameter sind für die „Ordnung der Dinge“ bestimmend?  In welcher Weise sind diese Bildrhetoriken konstitutiv für die Konstruktion von Wirklichkeit?

Brigitte Mahlknechts Zeichnungen zeigen kartenähnliche Formationen: In der großformatigen Serie O.T. (2011) werden landschaftsartige Räume von beinahe endloser Weite erkennbar. Die Zeichnungen entfalten Bildräume, die sich einer eindeutigen Bestimmung entziehen und den Betrachter auffordern, aus der Kontingenz der Linien Formen und Strukturen herauszulesen. Teilweise lässt sich gar Schriftähnliches erkennen, sodass die Zeichnung zwischen Darstellung und Zeichenhaftigkeit changiert, ohne sich festlegen zu lassen. Stets scheint der mögliche Anschluss das Hauptmotiv des zeichnerischen Ansinnens Mahlknechts. Die Künstlerin „erstellt“ Kartografien imaginärer Bildräumlichkeit mit latenter Außenreferenz. Sie zeigt vage und unbestimmte Topografien, in denen die räumliche Tektonik außer Kraft gesetzt scheint. Unterschiedliche Raumlagen werden ineinander verwoben, Kategorien des Oben/Unten, aber auch Vorn/Hinten drohen ineinander umzuschlagen oder sich aufzulösen. Der Betrachter verliert in diesen expandierenden Bildräumen die Orientierung, er wird der eigenen „Lektüre“ überlassen, ohne auf Vertrautes zurückgreifen zu können. Der Blick in O.T. (2011) alteriert zwischen orbitaler/kartografischer Aufsicht und erhöhter Bodensicht. Man sieht sowohl auf die imaginäre Landschaft als auch in sie hinein. Mahlknecht stellt dem Kartendispositiv, der Blickregie visueller Kontrolle, einen geradezu raumtranszendierenden Blick endloser Weite und Fernsicht gegenüber; sie ermöglicht den Blick auf „ein ikarisches Luftiges, das eine auf kosmische Weise von der Schwerkraft befreite Welt durchforscht“(2).

Den Ausgangspunkt der 6-teiligen, kleinformatigen Serie O.T. (2007-11) bilden Fragmente erinnerter Sichtbarkeit. Mahlknecht bezieht sich auf bei Nacht aus dem Flugzeug wahrgenommene Landschaften. Sie verwendet also „Vorlagen“, die auf einer doppelten visuellen Unbestimmtheit basieren – auf dem Sehen im Dunkeln sowie der fragmentarischen Wiedergabe der Erinnerung. Die Künstlerin bewegt sich zeichnend zwischen Erinnertem und Imaginärem, ohne diese Agenden streng gegeneinander abzugrenzen oder ineinander aufzulösen. Diese bestimmte Unbestimmtheit hält vielmehr die Notationsbewegung in Gang. Der zeichnerische Prozess wird zur analogen Spur des „ästhetischen Denkens“, er figuriert sich als Suchbewegung, die nicht auf Resultate zielt, sondern auf die Kontinuierung des ästhetischen Prozesses. Die Zeichnung zeigt sich als Medium der Temporalisierung, als Verweis ihres Seins im Werden. 

Mahlknechts Zeichnungen erscheinen als Auszüge eines Bildraumkontinuums, das sich in den einzelnen Bildern nur ansatzweise konkretisiert. Sie bilden temporale Synthesen, in denen Herkunft und Zukunft der Linie miteinander verschränkt werden.(3) Mahlknechts Bilder spiegeln einen Prozess der Bezeichnung wider, der sein Bezeichnetes stets „verfehlt“, wodurch das eigentliche Signifikat der Zeichnung sich in einen Raum der Unbestimmtheit verschiebt.

Auf drei Tischen inszeniert Nikolaus Gansterer wissenschaftlich anmutende Konstellationen diverser Materialien und Artefakte: Zeichnungen, Notizen, aber auch Zeichengeräte und
-apparaturen werden dem Betrachter geradezu archivisch präsentiert. Traces of Spaces versammelt zeichnerische Spuren von Orten, die mithilfe einfacher Zeichenapparate, die der Künstler im öffentlichen Raum installiert hat, generiert wurden. Diese Apparate funktionieren, einmal in Gang gesetzt, selbsttätig, selbstschreibend. Die Tische zeigen das gesammelte Material der unterschiedlichen indexikalisch-aufzeichnenden Systeme: Man sieht Signaturen eines an einer Pflanze montierten Stifts oder grafische Notate eines Stifts, der an einem Heliumballon montiert ist, um die Windbewegungen seines Umgebungsraums abzubilden.  
Man könnte meinen, bei Gansterer führe die Natur selbst die (Bild-)Regie. Er verhilft dem „Pencil of Nature“(4) zur Sichtbarkeit. Seine Resultate lassen auf eine verlässliche, authentische Abbildung von Natur hoffen, letztlich auf Erkenntnis durch visuellen Zugriff auf die Wirklichkeit. Die behutsame Systematisierung der Aufzeichnungen scheint der Suche nach Ordnungsmustern – in Hooke’scher Art – zu gelten, durch die der Beobachter vom Allerkleinsten auf das Allergrößte zu schließen vermag.(5) Die versammelten Aufzeichnungen, die zunächst wie durch Störungen verursachte Abweichungen wirken, werden systematisiert, sodass die Kontingenz des Natürlichen anschaulich und kontrollierbar erscheint.

Die Aufzeichnungssysteme sind auf den ersten Blick entsubjektiviert, rein perzeptiv. Während das grafische System indexikalische Spuren erzeugt und damit Wirklichkeit neutral abzubilden scheint, wird die wissenschaftliche Inszenierung, die Anordnung und Selektion der Schaustücke auf den Tischen, deutlich als inszenierte Ordnung lesbar. Gansterer verschiebt die Aufmerksamkeit von der Beobachtung erster Ordnung (indexikalische Aufzeichnungen) auf das vermeintlich neutrale Beobachtungsdispositiv (wissenschaftliche Inszenierung), das den Blick auf die Artefakte choreografiert. Denn nur zu leicht werden die Formen der Beobachtung mit den beobachteten Gegenständen vermengt oder verwechselt und erscheinen dadurch kongruent und wirklichkeitstreu. Gansterers System setzt induktiv, beim Beobachten kleinster Erscheinungen, an, stellt aber alsbald die Frage nach dem blinden Fleck der induktiven Methode.

Traces of Spaces eröffnet ein Feld semantischer und ontologischer Fragen nach Natürlichkeit und Künstlichkeit, „Objektivität“ und Imaginärem/Subjektivem. Seine zeichnerisch-apparativen Dispositive hinterfragen den Anspruch der Objektivität wissenschaftlicher „Weisen der Welterzeugung“. Durch die gezielte Kreuzung epistemologischer und künstlerischer Verfahren bergen seine Arbeiten eine grundsätzliche erkenntnistheoretische Dimension, indem sie die Frage nach ästhetischer Erkenntnis, nach einem ikonischen Wissen(6)  stellen. Traces of Spaces sucht nach dem „Scharnier, welches das Abstrakt-Unsichtbare mit dem Konkret-Sinnlichen flexibel verschränkt“(7).

Die Zeichnungen von Mahlknecht  und Gansterer rekurrieren auf wissenschaftlich codierte Repräsentationen respektive Modelle von Wirklichkeit: Die zeichnerischen Praktiken verweisen auf die der Wahrnehmung vorangehenden Blickanordnungen und Dispositive. Während Gansterer wissenschaftliche Bildkodierung inszeniert, um ihren indexikalischen Gehalt der Interpretation visueller Wahrnehmung gegenüberzustellen, hinterfragt Mahlknecht im Zeichnen selbst die Autorität des Kartendispositivs, indem Räumlichkeit mehr aufgelöst und transzendiert, als wiedergegeben wird. Convergence in probability zielt nicht auf die Relativierung der Beobachtungsstandpunkts und -dispositivs oder auf schlichte Vermehrung und Egalisierung der Perspektiven, was in der Auflösung jeglichen Wirklichkeitssbezugs resultieren würde. Stattdessen fokussiert das Medium Zeichnung in dieser Ausstellung auf ein Gewahrwerden des eigenen Standpunkts, aber auch der eigenen Erwartungen und Projektionen an das jeweils Gesehene. Hierzu führt die Zeichnung bei beiden KünstlerInnen den Betrachter ins Ungewisse. Sie bietet unterschiedliche Lesarten, die die Dimension des Fiktionalen von Wissenschaft und damit das Phantasma der Objektivität selbst „sichtbar“ machen.

 

David Komary




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Anmerkungen:

(1) Gottfried Boehm:Spur und Gespür – Zur Archäologie der Zeichnung, in: ders., Wie Bilder Sinn erzeugen – Die Macht des Zeigens, Berlin University Press: 2007, S. 152.
(2) Christine Buci-Glucksmann: Der kartographische Blick in der Kunst, Berlin: Merve 1997, S. 194.
(3) Vgl. Gottfried Boehm: Spur und Gespür – Zur Archäologie der Zeichnung, S. 156.
(4) So der bezeichnende Titel der ersten Veröffentlichung fotografischer Abbildungen von Henry Fox Talbot in den Jahren 1844.
(5) Vgl. Florian Nelle: Experimentelle Wahrnehmung in Wissenschaft und Kunst, in: ders., Künstliche Paradiese, Würzburg: Königshausen & Neumann 2005, S. 93f..
(6) Vgl. Gottfried Boehm: Ikonisches Wissen – Das Bild als Modell, in: ders., Wie Bilder Sinn erzeugen – Die Macht des Zeigens; Berlin University Press: 2007, S. 120.
(7) Ebd., S. 121.